Arthur-Koestler-Preis 2005 Preisträger: Peter Puppe: „Sonnenwende oder Ich bin nicht maßgebend“
Veröffentlicht am 28.06.2005 im Internet-Literaturforum „gruppe-vier-w.forum“ (Literaturforum – Prosa) unter dem Pseudonym „pitnick“ Link: http://2037.rapidforum.com/topic=114578005828
Sonnenwende oder Ich bin nicht maßgebend Am offenen Fenster meines Einzelzimmers sehe ich dem blutroten Sonnenuntergang zu. Wie viele dieser malerischen Momente mag ich erlebt haben? Wie viele werden es noch sein? Für den Mann im Nebenzimmer ist es der letzte. Morgen Mittag wird er durch eine Giftspritze sterben. Nein, wir sind nicht in einem Film, sondern mitten in Europa, in der Schweiz, in der Nähe von Zürich. Vielleicht protestiert jetzt dein Verstand, weil deine Gefühle unangenehm berührt werden. Möchtest du die Ohren verschließen und ‚stopp’ rufen? Vielleicht wünschst du dir, mit alle- dem nichts zu tun zu haben und würdest lieber den Raum verlassen. Es steht dir frei, aber du wirst es nicht auf Dauer verdrängen können. Es geht auch um dein Leben, wenn vom Sterben die Rede ist. Ich kenne dein Alter nicht. Meine Mutter starb mit sechzig, ich bin schon ein- undsechzig Jahre alt. Der Mann nebenan ist 1914 geboren, er ist neunzig. Vor einer Viertel- stunde hat er es mir noch einmal gesagt: „Ich bin so froh, dass ich morgen endlich sterben darf! Ich bin nicht maßgebend, aber sagen Sie es allen, die Ihnen zuhören. Sie werden es nicht verstehen, weil sie jung sind. Aber sie sollen es hören, bevor sie alt werden.“ Karl Gropius ist ein faszinierender Mann. Ich habe ihn vor acht Wochen kennen gelernt. Er suchte einen Patientenanwalt, der für ihn entscheidet, wenn er es selbst nicht mehr kann. Er hat dafür alles schriftlich niedergelegt. Aber in Wirklichkeit hoffte er, einen Sterbehelfer zu finden. Zwei Tage zuvor hatte er es schon seinem Hausarzt gesagt: „Herr Doktor, ich suche einen Sterbehelfer.“ Der Arzt antwortete ihm nicht. Er tat so, als hätte er die Frage nicht ge- hört. Aber der alte Mann ist hartnäckig: „Herr Doktor, haben Sie mich nicht verstanden? Ich suche einen Sterbehelfer – einen Menschen, der mir den letzten Liebesdienst erweist und mich erlöst. Es gibt doch keinen Zwang zum Leben, oder?“ Dem Arzt war nicht wohl in sei- ner Haut. Jetzt konnte er sich nicht mehr davonstehlen. „Ich kenne keinen, Herr Gropius“, war seine hilflose Antwort. „Wenden Sie sich an die Kassenärztliche Vereinigung.“ Auch Herr Gropius musste darüber lachen. „Ich möchte einen Brief an den Staatsanwalt schreiben“, sagte er mir zwei Tage später, „dass er Sie auf keinen Fall anklagen darf, wenn Sie mir helfen.“ – „Das wird mir nichts nützen“, gab ich zur Antwort. „Der Staatsanwalt handelt nach Recht und Gesetz, nicht aus menschli- chen Erwägungen heraus. Das sind manchmal zwei verschiedene Dinge.“ Herr Gropius nickte sehr ernst: „Jedes Tier kann erlöst werden, wenn es sich quält, warum nicht der Mensch, wenn er es selber wünscht? Bin ich weniger wert als ein Tier? Muss ich leiden, weil ich ein Mensch
bin?“ Plötzlich war er Feuer und Flamme: „Pass auf, ich habe vor ein paar Tagen mit zwei Tierärztinnen gesprochen, am Telefon, und die eine hat gesagt: ‚Ich habe volles Verständnis für Ihre Situation’. Die rufen Sie jetzt an und dann gehen Sie hin und fragen, ob Sie mir hilft. Sie kann jedes Tier erlösen, dann wird sie auch mir helfen. Machen Sie das für mich?“ Jetzt konnte auch ich mich nicht mehr davonstehlen, aber ich versuchte es: „Herr Gropius, natür-lich könnte die Tierärztin Ihnen helfen, aber sie darf es nicht.“ – „Gehen Sie trotzdem hin, bitte! Hier ist die Telefonnummer, rufen Sie an und gehen Sie hin. Vielleicht ist sie ja nicht nur tierlieb, sondern auch menschlich.“ Herr Gropius hatte sich geirrt. Es war nicht die Tierärztin, mit der er gesprochen hatte. Aber sie hörte mich aufmerksam an. Dann meinte sie: „Das darf ich wahrscheinlich nicht, oder?“ – „Das dürfen Sie ganz sicher nicht“, gab ich ihr zur Antwort. „Die Frage ist nur, ob Sie es den-noch tun würden, als letzten Liebesdienst sozusagen.“ Sie schaute mir lange in die Augen, die Abzweigung war noch nicht in Sicht, dann hatte sie sie gefunden: „Wissen Sie, wenn ich mir das Leben nehmen wollte, dann würde ich es mit Insulin machen. Durch die Unterzuckerung verlieren Sie in wenigen Minuten das Bewusstsein und wenn Sie nicht sofort gefunden wer-den, sterben Sie daran. Sie brauchen nur einen Zuckerkranken zu finden, der Insulin ver-schrieben bekommt. Das brauchen Sie nicht einmal in die Vene zu spritzen, ganz einfach unter die Haut und.“ Das angebotene Geld für die Beratung wies sie zurück. Am nächsten Tag besorgte ich Herrn Gropius Schlaftabletten, rezeptfreie, und Zäpfchen ge-gen Erbrechen. Was verträgt ein neunzigjähriger Magen? Der alte Mann bedankte sich herz-lich. Er hatte schon zwei gelbe Säcke ineinander gesteckt. „Aber ziehen Sie sich Gummi-handschuhe an, wenn Sie mir helfen, ich habe genug davon. Sie dürfen keine Fingerabdrücke hinterlassen. Sie wissen ja, der Staatsanwalt hört nicht auf mich.“ Zwei Zäpfchen, zehn Schlaftabletten, die beiden Plastiksäcke für den Zeitpunkt, wenn er schläfrig wird und dann warten: zehn Minuten. dreißig Minuten. sechzig. neunzig. Nach zweieinhalb Stunden gab er auf: „Ich schlafe einfach nicht ein. Warum dürfen Apotheken solchen Schiet verkau-fen?“ Am nächsten Tag ein neuer Versuch: „Pass auf, ich habe es genau gelesen. Das Anafranil, was ich vom Arzt bekommen habe, hat eine mittlere Giftigkeit. Da sind noch sechzig Tablet-ten drin, die sollten reichen. Aber ich brauche etwas, um bewusstlos zu werden. Besorgen Sie mir Äther, bitte! Das wird doch zu kriegen sein, oder?“ – „Ich weiß nicht, aber ich kann es versuchen.“ In der ersten Apotheke haben sie keinen Äther. In der zweiten ist ein Restbestand vorhanden, 400 ml. „Wofür brauchen Sie es denn?“ Ich bin vorbereitet. Natürlich könnte ich sagen: „.um das Kaugummi aus dem Teppich zu kriegen.“ Aber das sagen alle, ich möchte originell sein: „Wissen Sie, ich experimentiere mit Insekten, Käfern und anderen Kleinlebe-wesen und mache Fotos und Filme und dafür sind die Tierchen einfach zu beweglich, verste-hen Sie?“ Ja, das versteht die Apothekenhelferin und zeigt sich interessiert: „Und die wachen dann wieder auf?“ – „Na ja, einige schon, aber nicht alle.“ Herr Gropius erwartet mich. Fünfzig Anafranil sind geschluckt. Zwei neue, gebührenpflichti-ge, schwarze Bremer Müllsäcke liegen bereit. Er bedankt sich, es ist ein kurzer Abschied. Den Äther will er in die Müllsäcke schütten und dann mit dem Kopf hinein. Diesmal muss es klappen. Er weiß, dass ich nicht bleiben darf, wenn ich den Staatsanwalt fürchte. Die Beihilfe zum Freitod, die Beschaffung von Medikamenten und Hilfsmitteln ist straffrei in Deutsch-land. Aber dann musst du gehen und den Menschen allein sterben lassen, sonst machst du dich der ‚unterlassenen Hilfeleistung’ strafbar, sagt der Staatsanwalt. Unsere Gesetze und
Menschlichkeit sind manchmal zwei verschiedene Dinge. Ich wiederhole mich, Verzeihung! Nach einigen tiefen Atemzügen in seinen Müllsäcken verliert Herr Gropius das Bewusstsein. Das Sterben meiner Mutter war humaner. Sie starb nach acht Tagen Koma. Ich werfe einen letzten Blick auf ihn und verlasse das Haus. Morgen Abend werde ich wiederkommen, ich habe einen Wohnungsschlüssel. Seit fünf Stunden bin ich zu Hause, es ist fast Mitternacht. Meine Kinder schlafen, meine Frau ist außerhalb. Das Telefon klingelt und ich melde mich. Die nächste Szene entstammt einem Horrorfilm. Niemand muss sie glauben. Herr Gropius ist am Telefon, er lallt. Ich kann ihn kaum verstehen: „Ich habe überlebt. ich bin wieder aufgewacht. Sie müssen sofort kom-men!“ Ich kann nicht fort, ich lasse meine Kinder nicht allein, auch wenn sie friedlich schla-fen. Mir fällt ein AWO-Mitarbeiter ein, der Herrn Gropius kennt. Ich rufe ihn an, berichte ihm von dem Anruf, sage ihm, dass sich Herr Gropius beängstigend anhörte, ich hätte einen Schlüssel, wenn er ihn abholen wollte, könnte er. Der Mitarbeiter macht sich auf den Weg. Am nächsten Morgen berichtet er mir, er wisse nicht, was mit Herrn Gropius gewesen sei. Er wirke sehr deprimiert, aber sonst ginge es ihm gut. Er habe ihn nach einem längeren Gespräch in der Nacht wieder allein gelassen. Wir verabreden uns bei Herrn Gropius zur Schlüsselrück-gabe. Herr Gropius wirkt sehr ernst, aber voller Tatendrang. Mehrere Päckchen Rasierklingen liegen auf dem Tisch und er beginnt damit, sie auszupacken. Den Mitarbeiter fordert er auf, den Schlüssel zurückzugeben und schickt ihn fort. „Wir schaffen es“, sagt er zu mir. „Wir schaffen es!“ Er hat eine alte Matratze auf sein Schlaflager gelegt, damit es nicht verschmutzt wird. Er legt sich darauf und sucht seine Schlagader am Unterarm. Dann beginnt er zu schnibbeln. Denke ich jetzt an unsere Gesetze oder siegt die Menschlichkeit? Es dauert eine Weile, bis das Blut fließt, es ist fast schwarz. „Gut“, sagt er, „das ist gut. Wir schaffen es, wir schaffen es!“ Es wird nicht heller, aber Herr Gropius schnibbelt weiter: fünf Minuten. zehn Minuten. fünfzehn Minuten. Dann gibt er auf, es ist eine zu schwere Arbeit für einen Neun-zigjährigen. Ich weiß nicht, ob er auf mich hören wird, aber ich spreche ihn an: „Herr Gropius, wenn ich jetzt den Notarzt rufe, weist er Sie ins Krankenhaus ein und Sie können zur Ruhe kommen. Gemeinsam finden wir dann eine Lösung. Ich lasse Sie nicht allein. Sie haben es doch selbst gelesen, dass es in der Schweiz andere Gesetze gibt. Die sind dort einen Schritt weiter. Ich kümmere mich darum, wenn Sie wollen.“ Ich sehe einen Anflug von Hoffnung in seinen Au-gen: „Gut, dann rufen Sie den Notarzt, es ist ja auch besser für Sie.“ Herr Staatsanwalt, dies ist nur eine Erzählung. Ich habe dramatisiert. Die Wirklichkeit ist eine ganz andere. Natürlich habe ich mich immer sofort entfernt, wenn ich Herrn Gropius etwas besorgt habe. Das ist schon okay so mit unseren Gesetzen. Ein neunzigjähriger Mann ist alt genug, um zu wissen, was er will und dabei kann man ihn ruhig alleine lassen, damit man nicht angeklagt wird wegen unterlassener Hilfeleistung. Ich bin ein durch und durch gesetzes-treuer Bürger und Diener dieses Staates. Ich mache keine Sachen, die Ihnen missfallen. Also, nichts für ungut, Herr Staatsanwalt, alles nur Schaumschlägerei wegen der Dramatik. Sie verstehen, nicht wahr? Mehrere Sehnen hat sich Herr Gropius durchtrennt. Im Krankenhaus werden sie wieder zu-sammengeflickt. „Herr Doktor, ich möchte sterben, je eher umso besser.“ Oberarzt Glaser schaut ihn missbilligend an: „Ich habe eine andere Auffassung, Herr Gropius.“ – „Das ist in Ordnung, Herr Doktor, das ist vollkommen in Ordnung. Ich bin nicht maßgebend. Aber ich
möchte sterben oder gibt es einen Zwang zu leben?“ Der Film wiederholt sich. Nach vierzehn Tagen Psychopharmaka steht im ärztlichen Abschlussbericht: „Der Patient spricht davon, in der Schweiz ‚human sterben’ zu wollen, was aus medizinischer Sicht sehr fragwürdig er-scheint.!?“ Herr Gropius wird in die Kurzzeitpflege eines Altenheims verlegt. Sein Wunsch zu sterben, ist unverändert. Am Freitag, dem 10.06.2005, legt ihm ein Schweizer Arzt eine Venenkanüle. Ich habe Herrn Gropius in den vergangenen acht Wochen niemals so glücklich gesehen. Er bedankt sich bei seinem ‚guten’ Doktor und erfüllt mir die Bitte, seine Hand halten zu dürfen. Dann schaut er mir ruhig in die Augen und öffnet lächelnd das Ventil. Zwei Minuten später ist er friedlich entschlafen. Sonnenwende. Postskriptum: Dies ist nur eine Erzählung. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zwei Schweizer Ärzte lehnen das Gesuch zur Freitodbegleitung ab. Sie diagnostizieren von fern eine unzurei-chende Therapie des neunzigjährigen Patienten Karl Gropius. Ihre Behandlungsvorschläge beinhalten eine Nassinhalation zur Verbesserung der Atemfunktion und die Verordnung von Stützstrümpfen (Wert ca. 30 Euro) zur Verbesserung der Durchblutung und Linderung des Juckreizes. Darüber kann Herr Gropius nicht mehr lachen. Nach Einnahme von zwanzig re-zeptfreien Schlaftabletten und vierzig Tabletten Chloroquin – einem Malariaprophylaxemittel – krepiert er elendig in einem schwarzen Müllsack der Bremer Entsorgungsbetriebe.
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Very often, the person suffering from the virus starts out with flulike symptoms. Then the rash begins. The pox, or lesion, starts offflat and red. Then a bump, or papule, forms. It starts to look like ablister with pus, or pustule. Then the pustule forms a dry, hard Chicken Pox covering. The most important thing, but probably the hardest thingto do as well, is to try not to scratch so the