Horst wagner, barlach, die sündflut, in: benno von wiese (hg

Vom werdenden Gott – die neue Gottesvorstellung in Ernst Barlachs Dramen1
„Die S•ndflut“, 1924 verƒffentlicht, ist das f•nfte von acht Dramen des Bildhauers, Graphikers und Dichters Ernst Barlach. Wie in allen seinen dramatischen Versuchen und wie im Grunde fast im gesamten bildnerischen Werk geht es auch hier um eine religiƒse Botschaft: Eine neue Gottesvorstellung und ein neues religi€ses Erlebnis werden verk•ndigt. „Die S•ndflut“ ist also nicht einfach eine dramatische Formung und Erweiterung der bekannten alttestamentlichen Erz„hlung. Barlach benutzt vielmehr die alte Fabel nur, um sie und die mit ihr verbundene Gottesvorstellung in Frage zu stellen und dabei seinen eigenen religiƒsen Entwurf zur Sprache zu bringen. Das Bemerkenswerte dieses Versuches und der eigentliche Wurf der „S•ndflut“ liegt darin, da… das, was in Frage gestellt, ja was in Barlachs Absicht ad absurdum gef•hrt wird, B•hnenrealit„t erh„lt: Gott-Jahwe2 erscheint in Gestalt des „vornehmen Rei-senden“ und des „Bettlers“ auf der B•hne und l„…t sich ins Gespr„ch, in die Aktion ein. Die Partner dieses Gespr„chs sind Noah, „Gottes Freund und Gottes Knecht“, und Calan, der „Gottes Feind“ genannt wird, der Kritiker und Provokateur, der Noahs Gott zum Machtkampf herausfordert und sich selbst zur Gottm„chtigkeit zu steigern sucht.
Gleich das erste Bild f•hrt unmittelbar in die theologische Auseinandersetzung hin-ein. Gott erscheint, von zwei Engeln begleitet, deren Anrede seiner Erscheinung alle Erhabenheit gibt, in der Gestalt des „vornehmen Reisenden“. Er zweifelt an sich und seiner Schƒpfung: „Eure Gedanken sagen: wer bist du, da… sie anders werden konn-ten, als du wolltest? … Es reut mich, da… ich sie gemacht habe.“3 Die Engel werden ausgesandt, Noah zu suchen und solche, die ihm gleichen, „die sind, wie sie sein sollen, die wollen, was ich will, die denken, was ich zu denken verleihe“4.
Calan, der herrisch-herrscherliche und gewaltt„tige, aber auch gro…m•tige und un-bedingte Mensch, tritt Gott in einem ersten entscheidenden Gespr„ch gegen•ber. Als Gott ihn wegen seiner Grausamkeit anklagt: „Du bist fehlgeraten, deine Bosheit ist nicht sein (Gottes) Werk“, antwortet Calan: Nein, meine Bosheit ist auch von ihm. Wer mich in meine Bosheit gebettet, . der hat nichts Besseres getan als ich, da ich die Kinder mit der Sch‚rfe des Schwertes schlug.5 Fortan zieht sich die Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des B€sen leit-motivisch durch alle Gespr„che. Da… Gott-Jahwe sich bis zuletzt als Schƒpfer des Bƒsen verleugnet („Was hat Gott mit dem Bƒsen zu tun, nicht er ist der Schƒpfer des 1 Dieser Vortrag folgt im Wesentlichen dem Beitrag von Horst Wagner, Barlach, Die S•ndflut, in: Ben-no von Wiese (Hg.), Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen, D•ssel-dorf: August Bagel 1958, S. 338-356. Vgl. dazu auch: Horst Wagner, Ernst Barlach und das Problem der Form, Diss. M•nster 1955; Helmut Krapp; Der allegorische Dialog, Akzente 1 (1954) 210-233.
2 Barlach nennt ihn mit der Tradition „Jehova“, was aber ein Missverst„ndnis ist: Die Konsonanten von „Gott“ (Jahwe), gelesen mit den Vokalen von „Herr“ (Adonai), ergeben das Kunstwort „Jehova“.
Bƒsen“6), wird im Drama als Zeichen seiner Fragw•rdigkeit gewertet. Eine Deutung im Sinne Barlachs wird erst von Calans gro…em Schlu…kommentar her mƒglich.
„Lob und Dienst und Dank und Knechtschaft“7, wie sie der „fromme Nachbar“ Noah seinem Gott zollt, sind in Calans Augen ein „nichtsnutziger und bƒser Handel“8, weil sie Gott mit menschlichem Ma… messen. Schon in diesem Gedanken wird deutlich, da… die Absage an den „Dienst“ nicht die Absage an einen Gott •berhaupt ist. Calan f•hrt seine Autonomie auf eine Gotteskindschaft zur•ck, freilich auf die Kind-schaft eines „grƒ…eren Gottes“ als des Gottes Noahs: Danach m•ƒte ich forschen, ob es ungeschickt ist zu denken, daƒ der Sohn von der Art des Vaters sei – frei wie er – Herr wie er – gerecht und gut wie er –groƒ und m‚chtig aus der Gewalt seiner Herrlichkeit entsprossen.9 Diese „Freiheit“ wird von Calan bis zuletzt st„ndig gegen die „Knechtschaft“ Noahs ausgespielt („Ich will sehen, wie Knechte schwimmen“10, „Ich will sterben, wie es dem Sohn ansteht, der kein Knecht seines Vaters ist“11).
Calan nennt sich aber auch „das gestohlene Kind eines unbekannten Gottes, schlecht gehalten und seines Vaters unwert“12, und sp„ter das „Kind eines grƒ…erenGottes . abgesetzt, verloren, gestohlen, •belgehalten und verwahrlost . aber ein Gott!“13 Es ist eines der Grundmotive Barlachs, das schon in „Der tote Tag“ (Abstammung vom „unsichtbaren Vater“) und in „Der arme Vetter“ (der Mensch als ins Elend gera-tener „armer Vetter eines hohen Herrn“, n„mlich Gottes) ausgef•hrt ist. Das Bewu…t-sein ihrer „hƒheren Abkunft“ lƒst jene „transzendente Begier“14 aus, die alle Barlach-schen Helden bewegt.
Schon im Verlauf der ersten Szene l„…t sich Gott-Jahwe handelnd mit Calan ein, in-dem er die Drohung „Fehlgeraten bist du er (Gott) wird dich in deinen Kamelen schlagen“15 in die Tat umsetzt.
„Die S•ndflut“ gipfelt in der letzten Szene, in der Calan gegen Noahs Glauben an den „unwandelbaren“ Gott seine neue Gottesschau verk•ndet: Calan. Als die Ratten meine Augen aus den H€hlen rissen, Noah, bin ich se-hend geworden. Ich ertrage den Anblick Gottes, ich sehe Gott . Noah. Ach Calan, was siehst du – Gott ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln. Er wird mich durch die Flut f•hren und mich retten vom Verderben. Calan. Das ist der Gott der Fluten und des Fleisches, das ist der Gott, von dem es heiƒt, die Welt ist winziger als Nichts und Gott ist Alles. Ich aber sehe den andern Gott, von dem es heiƒen soll, die Welt ist groƒ, und Gott ist winzi-ger als Nichts – ein P•nktchen, ein Glimmen, und Alles f‚ngt in ihm an, und 14 Ernst Barlach, G•strower Fragmente, 10. Jahresgabe der Ernst Barlach Gesellschaft, S. 33: „die transzendente Begier, die letzte und oberste aller Menschen“.
Alles h€rt in ihm auf. Er ist ohne Gestalt und Stimme . Alles entst•rzt ihm, und Alles kehrt in den Abgrund seiner Glut zur•ck. Er schafft und wird vom Geschaffenen neu geschaffen . auch ich fahre dahin, woraus ich hervorge-st•rzt, auch an mir w‚chst Gott und wandelt sich weiter mit mir zu Neuem –wie sch€n ist es, Noah, daƒ auch ich keine Gestalt mehr bin und nur noch Glut und Abgrund in Gott – schon sinke ich ihm zu – Er ist ich geworden und ich Er – Er mit meiner Niedrigkeit, ich mit seiner Herrlichkeit – ein einziges Eins.16 Calan erhebt sich in seinem Untergang endg•ltig •ber Noah. ‡ber dem „unwandel-baren“ Jahwe-Gott des Alten Testaments erscheint also der Gott, der „schafft und . vom Geschaffenen neu geschaffen“ wird, der ewig Werdende, zu dessen Wesen und Notwendigkeit die Vermittlung des Zeitlichen und Schƒpferischen gehƒrt. Die Vorstellung einer im Weltproze… sich wandelnden und verwirklichenden Gottheit, die sich aus der deutschen Mystik17 herleitet und von der romantischen Philosophie18neu aufgenommen wurde, tritt nach der Wende zum 20. Jahrhundert vielfach wieder zutage. Barlach begegnete ihr in Erich Gutkinds19 Schrift „Siderische Geburt. Se-raphische Wanderung vom Tode der Welt zur Taufe der Tat“, in der altes gnostisch-theosophisches Gedankengut zur prophetischen Verk•ndigung einer „neuen •ber-persƒnlichen Religion“20 aufgenommen wurde. Hier ist die Vorstellung eines grenzen-losen Prozesses der Weltrealisierung ausgepr„gt, der durch den Abfall Gottes von sich selbst21 zu ewig neuer Steigerung bewegt wird.
F•r Barlach hat diese Vorstellung einer creatio continua, einer best„ndigen Schƒp-fung, die er „Werden“ nennt, zentrale Bedeutung. „Unser Leben ist ein Strom des Werdens, und kein Ziel als immer neues Werden . – ewiges Werden“, hei…t es im „Blauen Boll“.22 18 Hamann, Herder, Jacobi, Schlegel, Schleiermacher (Romantik); Fichte, Schelling, Hegel (Deutscher Idealismus).
19 Barlach, der von sich bekannt hat, zum Christentum keine innere Verbindung mehr zu besitzen, neigte Zeit seines Lebens zu metaphysischen Spekulationen, die deutlich in seine Dramen eingegan-gen sind. Es erhebt sich die Frage nach der ideengeschichtlichen Verwurzelung dieser Spekulationen etwa in der Mystik Jakob Bƒhmes, dessen Werke sich in Barlachs G•strower Privatbibliothek mit den Spuren (zahlreichen Bleistiftnotizen) emsiger Lekt•rebenutzung befanden. Wesentlich nachhaltiger scheint jedoch der Einflu… einer anderen spekulativen Schrift gewesen zu sein, die Erich Gutkind (Mitglied des Potsdamer Forte-Kreises wie Theodor D„ubler) 1910 unter dem Pseudonym „Volker“ verƒffentlichte: „Siderische Geburt. Seraphische Wanderung vom Tode der Welt zur Taufe der Tat“. Barlach ist nicht nur in seinen „G•strower Fragmenten“ auf dieses Buch eingegan-gen, sondern hat auch in einem Brief vom M„rz 1913 ausdr•cklich betont: „Ich w•rde Ihnen gern ein Buch schicken, mit dem ich mich k•rzlich intensiv besch„ftigt habe, Volker, ‘Siderische Geburt’ [.] mir scheint das Werk in mehr als einem Betracht au…erordentlich, ja, bisweilen prophetisch-gro…artig“ (B I, 411). Diese Schrift, „in der altes gnostisch-theosophisches Gedankengut zur prophetischen Verk•ndi-gung einer ‘neuen •berpersƒnlichen Religion’ aufgenommen wurde“, bezeichnet also eine der Wur-zeln dessen, was man in der Forschung als Barlachs „Mystik“ beschreibt. Es handelt sich um einen sehr komplexen, keineswegs klar abzusch„tzenden Sachverhalt, der als Bedingung von Barlachs dramatischem Schaffen ins Spiel kommt. Der Eklektizismus und die Verworrenheit dieser „Mystik“ wirft einen Schatten •ber Barlachs Dramenwerk, der sich als ideologische Hypothek bezeichnen lie…e. (Manfred Durzak, Das expressionistische Drama. Ernst Barlach – Ernst Toller – Fritz von Unruh, M•n-chen: Nymphenburger Verlagshandlung 1979, S. 27-28.) 21 Vgl. dazu auch: theologische_Themen/Vom_rechten_Gottesverstaendnis.pdf „Werden“ ist aber nicht allein dieser unabl„ssige, anonyme Proze… kosmischer Na-tur, in dem die Individuation aufgegangen ist23, sondern es ist f•r die Helden Bar-lachs zugleich gebunden an einen Akt personaler Entscheidung im Sinne der Selbst-verwirklichung („Boll will“), also Sache des „Leidens und K„mpfens“24. Barlachs Helden wollen als Werdende in ihre wahre „Wirklichkeit“25, zu ihrem „eigent-lichen Ich“26, ihrem gƒttlichen Selbst gelangen: „Jener, der du als Vollendeter sein w•rdest, der sei dein Herr, und als der, der du bist, diene ihm so lange, bis du zu ihm hinaufgedrungen bist“27. Sie werden durch die positive Unzufriedenheit mit sich selbst getrieben, die im „Armen Vetter“ einen „u…ersten Ausdruck im Selbstmord Ivers findet. Der Werdende nimmt Verantwortung f•r sich und andere auf sich. Darum erscheint das stellvertretende Opfer f•r den anderen in den beiden letzten Dramen Barlachs als die hƒchste Form des Werdens: Celestine in „Die gute Zeit“, Heinrich in „Der Graf von Ratzeburg“.
Von hier aus wird die negative Kennzeichnung des „frommen“ Noah ganz deutlich:Frommsein hat bei ihm (anders •brigens als bei Luther28) mit „Werden“ nichts zu tun. „Ich war lange genug fromm, jetzt hei…t es im Ernst wirklich werden“, sagt Celestine in „Die gute Zeit“29, und im „Seespeck“-Fragment hei…t es: „Die Frommen m•ssen ja faul werden, ihnen geht’s ja gut, sie sind ja in ewiger Sicherheit, was kann ihnen pas-sieren!“30 So verdammt Calan den „Frieden“ und die „fromme Zufriedenheit“ Noahs, der seine Erw„hlung in naiver Selbstgerechtigkeit als etwas Selbstverst„ndliches hinnimmt, w„hrend Barlachs Helden sich selbst bis in die Wurzel ihrer Existenz verd„chtig wer-den. Sein „Plappern •ber Gott“31, von dem er „unvern•nftig oft“32 spricht, wird geta-delt, ja Gott selbst wiederholt Calans Kritik an Noahs anthropomorpher Gottesvorstel-lung: „Willst du deine Ma…e in seine H„nde legen?“33 Da… Noah die Sch„ndung des Hirten „h„nderingend“34 zul„…t, mu… als extreme Ge-genposition zum Opfer erscheinen. Noah wagt, seinen Willen nicht zu brauchen, und wirft seine Verantwortung auf Gott. Seine fromme Sicherheit ist eigentlich nicht legi-tim. Es ist kennzeichnend, wie er sich vor dem Geschrei des Hirten die Ohren35, beim Anblick des verst•mmelten Calan die Augen36 zuh„lt und wie er auch Awah ange- 23 Vgl. dazu: Joachim Kruse, Zum literarischen Fr•hwerk Ernst Barlachs, in: Nordelbingen. Beitr„ge zur Kunst- und Kulturgeschichte, Band 34, Heide: Westholsteinische Verlagsanstalt Boyens & Co. 1965, S. 241-254 (besonders den Abschnitt •ber August Strindberg, S. 249-252).
26 „Die echten Sedemunds“, D 192.
27 „Der Graf von Ratzeburg“, D 549.
28 Luther: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht Sein, sondern ein Werden, nicht Ruhe, sondern ‡bung.“ (Martin Luther, Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers so durch rƒmische Bulle unrechtlich ver-dammt sind. BoA 2, S. 60–132, hier S. 75) sichts des Hirten zuruft: „Sieh nicht hin.“37 Dagegen deutet Calans „Hƒre, was dein Gott dir zu hƒren gibt“38 bereits auf den „Grafen von Ratzeburg“ hin: „Wer Kinder hat, mu… sie schreien hƒren lernen.“39 Hier wird eine neue Fr€mmigkeit sichtbar, die die abgr•ndigen Tatsachen des Lei-dens und des Bƒsen schmerzvoll erkennt und erf„hrt und die dennoch die Absurdit„t des zeitlichen Seins im Glauben an die All-Gƒttlichkeit der Schƒpfung gegen alle Zweifel durchzustehen aufgefordert ist.
Barlach „u…erte •ber die „S•ndflut“, er habe nichts als den Nachweis im Schilde ge-f•hrt, da… die alte Fabel „schlechterdings absurd“40 sei – die Fabel vom Gott, der „sein Geschƒpf f•r des Geschƒpfes Fehler straft“41. Die Theodizee der „S•ndflut“ (n„mlich die passende Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes) kann nicht mit Berufung auf den absurden Jahwe-Gott erfol-gen, jenen Gott, dem die eigene Theodizee nicht mehr gelingt („Pfuscherei, Pfusche-rei, schreit die Welt mir entgegen“42) und der die Problematik der Theodizee nur selbst noch potenziert. Gott-Jahwe, der ja tats„chlich „mit der echten Aura des Nu-minosen“43 erscheint, wird zum dialektischen Widerpart f•r eine neue Theodizee, die ihn, der sich selbst ad absurdum f•hrt, transzendieren mu… in Richtung auf den wer-denden Gott, von dem Calans Schlu…worte k•nden: „alles entst•rzt ihm, und alles kehrt in den Abgrund seiner Glut zur•ck. Er schafft und wird vom Geschaffenen neu geschaffen.“44 Es ist also die Vorstellung des „Werdens“, der creatio continua, von der aus eine Theodizee allein noch mƒglich erscheint, indem die unauflƒsbaren Disharmonien des zeitlichen Seins, das nur als Stufe und Phase des unendlichen Schƒpfungsprozesses gedeutet wird, sich im Hinblick auf eine letzte, unfa…bare Harmonie des Geschehens als gegenstandslos erweisen. Bƒse und gut, Begriffe von zeitlicher Geltung, werden metaphysisch belanglos. In diesem Sinne „u…ert Barlach •ber die „S•ndflut“: „Vermag er [der Mensch] sich bes-sere Begriffe [als gut und bƒse] zu bilden, ‘•bermenschlichere Zwecke’, etwa eine Erhabenheit, Seligkeit (‘Freude ist die gro…e Feder’) so verschwindet Beides.“45 Das eigent•mliche Paradox im Entwurf der „S•ndflut“ wurde bereits angedeutet: die f•r die theologische Auseinandersetzung so fruchtbare B•hnenpersonifizierung Gott-Jahwes, des „absurden“ Gottes, der Manifestation einer in ihrer Art wohl gro…artigen, aber begrenzten menschlichen Gottesvorstellung. Barlach nennt ihn in einem Brief einen „Menschengott . das Grƒ…te, was Menschen geschƒpft haben, eine An-schauung, die wandelbar ist . Solch ein Gott ist kein Gott“, kƒnne „in Wirklichkeit . •berhaupt nicht zust„ndig sein“.46 Gott-Jahwe erscheint in diesen Selbstdeutungen zun„chst also als eine theologische Fiktion, die als dialektischer Widerpart Barlachs neuen religiƒsen Entwurf •berhaupt erst ermƒglicht. 39 „Der Graf von Ratzeburg, D 570; vgl. D 540.
40 Friedrich Schult, Barlach im Gespr„ch, Leipzig 1948, ‹u…erung von 1932.
43 Klaus Ziegler, Das Drama des Expressionismus, in: Der Deutschunterricht 5 (1953) 61.
45 Ernst Barlach an Arthur Kracke, 4.2.1930, B II 205.
46 Ernst Barlach an Karl Barlach, 27.9.1924, B I 731.
Es ist nun aber hƒchst interessant zu sehen, wie dieser Jahwe-Gott in Barlachs deu-tender Spekulation •ber sein Drama denn doch so etwas wie Realit„t beh„lt. Barlach nennt ihn „eine Gestalt, die leidet und k„mpft“, einen „Vizekƒnig im Sein . Schƒpfe-risch auch er in seiner Absurdit„t und einbegriffen in das Wesen, dessen Wirklichkeit zu ermessen das Werkzeug des Menschen, ‘Kopf und Gef•hl’, nicht ausreichen“47. Diese Spekulation ordnet Gott-Jahwe also als Gestalt in die unendliche Hierarchie des „Werdens“ ein, und es wird deutlich, welche umfassende Bedeutung einer sol-chen Vorstellung innerhalb der religiƒsen Gedankenwelt Barlachs zukommt, dem „die christliche Heilslehre . eine immer geringer werdende Notwendigkeit seelischen Be-sitzes“48 wurde.
Betrachten wir nun die Schlu…worte Calans auch in formaler Hinsicht nach ihrer Funktion im Ganzen des Dramas. Wir m•ssen sie als einen „Kommentar“ bezeich-nen, da sie nicht als Konsequenz eines szenisch-dialogischen Ablaufs verstanden werden kƒnnen, sondern davon ganz unabh„ngig in der Form einer Verk•ndigung die Summe dessen ziehen, worauf das Drama eigentlich angelegt ist.
Es ist besonders aufschlu…reich, dem Ph‚nomen des „Schluƒkommentars“ auch bei den anderen Dramen nachzugehen (er fehlt •brigens in keinem und ist immer nur das letzte Glied einer die St•cke durchziehenden Kommentarfolge), da von hier aus am ehesten eine Analyse der eigent•mlichen Struktur dieser dramatischen Versuche mƒglich wird: In Barlachs erstem Drama „Der tote Tag“ kommentiert der Gnom Stei…bart: „Alle haben ihr bestes Blut von einem unsichtbaren Vater. Sonderbar ist nur, da… der Mensch nicht lernen will, da… sein Vater Gott ist.“49 In der vorletzten Szene des „Armen Vetters“ hei…t es von der inneren Verwand-lung des Fr„ulein Isenbarn: „Du willst vom toten Leben in den hƒheren Tod hin-auf“50, und zuletzt, sie sei „Magd eines hohen Herrn“ geworden: „Der hohe Herr war ihr eigener hoher Sinn – und dem dient sie als Nonne – ja, ihr Kloster ist die Welt, ihr Leben – als Gleichnis.“51 Am Ende der „Echten Sedemunds“ verk•ndet Grude die neue Zeit, in der „alles gr•ndlich anders“ werden wird.52 Im „Findling“ wird zuletzt das Erlƒsungsgeschehen durch den „Steinklopfer“, den „Murmelnden“ und den „Tenor“ kommentiert.53 Der „Herr“ selbst „u…ert sich am Schlu… des „Blauen Boll“ •ber das „Werden“ des verwandelten Gutsbesitzers Boll: „Sie m•ssen, Boll mu… Boll geb„ren . Leiden und K„mpfen, lieber Herr, sind die Organe des Werdens . Boll wird durch Boll –und Werden, Herr, Werden vollzieht sich unzeitig, und Weile ist nur sein blƒder Schein.“54 Celestine interpretiert ihren eigenen Opfertod am Kreuz am Ende der „Guten Zeit“folgenderma…en: „Das unz„hlige Gewimmel der Sterne empf„ngt mich in seiner 48 Ernst Barlach an Johannes Schwartzkopff, 3.12.1932, B II 337-338.
52 „Die echten Sedemunds“, D 265.
Herrlichkeit, die wohl den sehenden Augen, nicht aber dem schauenden Blick ent-r•ckt ist, die Schuld ist gelƒscht, die mir die Erde gegeben hat. Die schlechte Wirklichkeit wird vor der guten Wirklichkeit weichen“55; schon zuvor wurde ver-steckt angedeutet, da… es sich bei ihrem Opfertod um „Erhebung, hƒchste Steige-rung, Vollendung – ja fƒrmlich Verkl„rung“56 handelt. Im „Grafen von Ratzeburg“ schlie…lich k•ndet Heinrich zuletzt von dem „Wissen •ber alles Wissen“, das „alles Sein ausmacht“ und „sich selbst (gehorcht), gleich als ob es sich selbst geschaffen h„tte“57; „ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich . mein Gehorsam . verschwindet und schwimmt gleich deinem im Meer seiner grenzenlosen Gewi…heit“58. Schon diese Zitate, f•r sich allein betrachtet, verdeutlichen das innere Anliegen, das den bildenden K•nstler Barlach zum Drama trieb: Nachricht zu geben von einer hƒ-heren, geistig-gƒttlichen Abstammung des Menschen; von einem „Wissen •ber allem Wissen“, dem, was „hinter der Zunge und hinter den Worten“ anf„ngt59, ahnungsvoll zu k•nden; und im „Werden“ seiner Helden („hinauf, hin•ber, trotz sich – •ber sich“, wie es im „Armen Vetter“ hei…t60) Beispiele einer hƒchsten Selbstverwirklichung des Menschen zu geben.
Diese Schlu…kommentare machen aber zugleich unmittelbar die Schwierigkeit ein-sichtig, vor der der „Dramatiker“ Barlach steht. Denn die skizzierten Gehalte liegen ihrer Natur nach jenseits der dramatischen Welt, sind trans-dramatisch. Der Held, der sich als „Werdender“ •ber sich selbst in eine hƒchste Wirklichkeit hinaushebt, tr„gt alle Spannung in sich. Er hat den Anruf seines transzendentalen Selbst als ein unmit-telbares „Sollen“ erfahren. Der einzige Kontrahent in dem inneren Ringen, in dem das Sollen zum Wollen werden soll, ist sein niederes Ich, die „Zeitgestalt“. Was Barlachs Helden bewegt, ist in einem Kommentar Franz Werfels zu seiner ma-gischen Trilogie „Spiegelmensch“ pr„zis formuliert: „Das menschliche Ich umspannt als seine st„rksten Gegens„tze zwei Personen (bei Barlach: „H„lften“, „Doppelg„n-ger“): Seins-Ich und Schein-Ich oder Spiegel-Ich. – Seins-Ich verzehrt sich nach der absoluten, vollkommenen, nicht mehr anzweifelbaren Wirklichkeit, Schein-Ich ver-f•hrt ununterbrochen zum Genu… der Spiegelwirklichkeit, zu jener Wirklichkeit (ei-gentlich: Unwirklichkeit), die nichts anderes ist, als der eitle Selbst- und Geltungsge-nu… des Menschen in seiner Umwelt.“61 Barlach hat das Unzureichende der dramatischen Form zur Darstellung dieses inne-ren Geschehens im Grunde deutlich gesehen. Er „u…ert zu seinem „Blauen Boll“, das „Geschehen“, das „Werden“ sei „als dunkle Gewalt schaltend und gestaltend im Hintergrund der Vorg„nge gedacht“62: „Was so unfa…bar ist, kann man nur als Selbstverst„ndlichkeit hinnehmen wie Sonnenauf- und -niedergang. Da… das Sollen zum Wollen wird, ist durch Motivierungen ebensowenig begreiflich zu machen, wie ohne sie. Man mag sie wahrnehmen gleichsam als Wegemarken des Geschehens, mehr sollen sie nicht vorstellen.“63 57 „Der Graf von Ratzeburg“, D 568.
58 „Der Graf von Ratzeburg“, D 571 f.
61 Zitiert nach Klaus Ziegler, Das Drama des Expressionismus, in: Der Deutschunterricht 5 (1953) 66.
62 Ernst Barlach an Curt Elwenspoek, 26. September 1926, B II 75 f.
Hinter dem Horizont der Szene also erst liegt der des wahren „Geschehens“. Diese beiden Ebenen – Szene und Jenseits-der-Szene, B•hnenvorg„nge und „Hinter-grund“ – in Bezug zu bringen, ist das Grundproblem der Barlachschen Dramatik. Alle formalen Ph„nomene ergeben sich hieraus.
Das „unfa…bare“ Werden kann sich nicht in einer fa…baren Verkn•pfung der Vorg„n-ge ausdr•cken. Es bedarf des Kommentars, der es als stattfindend anzeigt. Im „Blauen Boll“ hei…t es zum Beispiel direkt: Es bereitet sich unmerklich im Dunkel des pers€nlichen Erlebens manches Geschehen vor.64 Vom Beginn der Wandlung Bolls an wird als von einer „Selbstverge…lichkeit“ gespro-chen, und sofort kommentiert der B•rgermeister diesen Begriff: Sollte man sich nicht vorsichtig der Frage n‚hern und meinen, daƒ der verlo-rene, sozusagen der bisherige Herr Boll der falsche, dagegen der jetzige und neue, neugefundene Herr Boll der wahre Boll w‚re?65 Boll selbst gibt von den Stationen seiner Wandlung, seines „Werdens“ in st„ndigen Kommentaren Nachricht: Bin ich schon so ein anderer, daƒ ich meine eigene Frau nicht wiedererken-ne?66 Bolls Geburt und turmhohe Ver‚nderung steht vor der T•r.67 Den Vollzug der Verwandlung Bolls kommentiert zuletzt der „Herr“ (von dem es ebenfalls in einem Kommentar hei…t, er sei „der Herrgott selbst, einfach als pilgern-der Mensch“, „eine schwache, kaum wahrnehmbare Abschattung Gottes“): Boll hat mit Boll gerungen und er, der andere, der neue, hat sich behauptet. . Boll muƒ Boll geb‚ren . Boll wird durch Boll.68 Diesen Kommentaren •ber das Werden Bolls entsprechen in der „S•ndflut“ struktu-rell Calans Kommentare •ber seine Abstammung vom „grƒ…eren Gott“. Unmittelbar an den Schlu…kommentar der „S•ndflut“ erinnern im „Blauen Boll“ die Kommentare, die dem „Werden“ selbst gewidmet sind, etwa: Unser Sein . ist nichts als eine Quelle, aber unser Leben ein Strom des Wer-dens, und kein Ziel als immer neues Werden . ewiges Werden! Heute ist nur ein sch‚biges Morgen, morgen ist abgetan von •bermorgen.69 Unbezogen und isoliert stehen diese Kommentare innerhalb der szenisch-dialogischen Zusammenh„nge, deren Folge sie beliebig aufheben, um eine wesentli-che Wirklichkeit in den letzten Endes unwesentlichen Vordergrund des B•hnenvor-gangs zu r•cken. Helmut Krapp hat diesen Tatbestand b•ndig so formuliert: „Die Sprache stanzt den Sinn in die Szene.“70 70 Helmut Krapp, Der allegorische Dialog, in: Akzente 1 (1954) 214.
Ein weiteres Mittel in dem Versuch, eine Beziehung zwischen Vordergrunds- und Hintergrundsebene, zwischen Spiel und Sinn herzustellen, ist die eigent•mliche, skurrile Surrogat-Symbolik Barlachs. Man mu… hier von Ersatzmitteln sprechen, weil diese „Symbole“ wiederum nur Elemente eines Kommentars sind, ohne den sie schlechterdings nichts bedeuten. In den „Echten Sedemunds“ beispielsweise ist st„ndig vom „L€wen“ die Rede, und die Jagd nach einem angeblich entsprungenen Zirkuslƒwen ist auch das Vehikel der „u…eren szenischen Bewegung. Ein Schl•ssel zum Verst„ndnis des Surrogat-Symbols „Lƒwe“ ist die Bemerkung, da… jeder ein „Doppelg„nger“ sei. Gemeint sind, um die Begriffe Werfels zu gebrauchen, Schein-Ich und Seins-Ich. Diese Vorstellung, im Bild vom Doppelg„nger schon gleichnishaft gefa…t, wird durch den Lƒwen nach-tr„glich weiter bebildert: Wir haben alle einen unh€rbar br•llenden L€wen hinterm R•cken . Wir sind eben immer zwei, der L€we hinter mir ist auch ein St•ck von mir, eine Art ei-gentliches Ich.71 Es ist ganz deutlich, da… das Surrogat-Symbol nur f•r den Kommentar erfunden wur-de und da… ihm, das zun„chst ohne jede symbolische Aussagekraft ist, erst im Kommentar die gewollte Bedeutung zugesprochen wird. „L€we“ bedeutet hinfort im Dialog soviel wie eigentliches Ich, Gewissen, ja das Gƒttliche selbst, das den Men-schen, indem es ihn „fri…t“, „zum Teil seiner Majest„t“ macht. Auch das Bild vom Fressen wird nun kommentiert: das „wahre Leben“ ist ein „Fre…proze…, ein Verwand-lungs- und Verdauungswunder“72.
Diese merkw•rdige Surrogat-Symbolik gibt den Figuren •berhaupt erst die Mƒglich-keit, andeutungsweise von ihrer inneren Lage zu sprechen, •ber die Station ihrer Wandlung Auskunft zu geben: Sabine: Ich h€re ihn schon br•llen.73… Grude: Mich hat er im Rachen und beiƒt, und man weiƒ nicht, bin ich noch ich oder schon er?74 Vgl. dazu Boll: „Bin ich schon so ein anderer, da… ich meine eigene Frau nicht wie-dererkenne?“75 Ein anderes Beispiel f•r das Surrogat-Symbol ist das „Satanshinterviertel“, das durch die Gespr„che im „Blauen Boll“ geistert, bis ihm endlich im vierten Bild im Kommen-tar seine Bedeutung •bergest•lpt wird: Da ist •brigens wieder mal ein Beispiel auf die Beine gebracht – das Wachsen und Werden sucht sich seltsame Wege . Sehen Sie: was ist heute aus dem Bein geworden – bin ich nicht ein passabler Zeitgenosse, gewachsen aus ei-nem Satanshinterviertel? Werden, das ist die Losung! . alle sind auf gleichen Wegen des Werdens und laufen dem Besseren zu, selbst auf Teufelsbeinen.76 Der Kommentar ist vor dem Surrogat-Symbol da, aber er bedarf seiner, um die ab-strakte Vorstellung „Werden“ in einem Bild zu konkretisieren. 71 „Die echten Sedemunds“, D 191 f.
72 „Die echten Sedemunds“, D 222; vgl. dazu Erich Gutkind: „ „Alles Seyn ist Nahrung, ist Fra… und Seynssetzung ist Fra…setzung; wenn etwas ‘ist’, dann i…t der Geist.“ (Siderische Geburt 70) 73 „Die echten Sedemunds“, D 223.
74 „Die echten Sedemunds“, D 222.
Charakteristisch f•r das Barlachsche Surrogat-Symbol ist nun aber, da… es, obwohl deutlich nur f•r den Bedeutungszusammenhang eines bestimmten Kommentars er-funden, ein ph„nomenales Eigenleben im szenischen Vorgang annimmt. So tr„gt der „Herr“ im „Blauen Boll“ das zu kurze Bein mit dem „Satanshinterviertel“, und „hnlich findet in den „Echten Sedemunds“ die groteske Jagd nach dem Lƒwen statt, der, im Gegensatz zu dem „guten, wahren, einzigen“ Lƒwen (dem „eigentlichen Ich“), die Angst des Philisters vor dem b•rgerlichen Skandal allegorisiert.
Wie das Surrogat-Symbol, so gibt es im Barlachschen Drama auch den surrogativ-symbolischen Vorgang. Ein groteskes Beispiel hierf•r findet sich im „Toten Tag“. Der Gnom Stei…bart, dem die Aufgabe zugedacht ist, den Sohn auf seine Abkunft vom Geist-Vater hinzuweisen, behauptet, sein eigener Vater h„tte auffahren kƒnnen, und f„hrt zur Decke auf. In einem Gespr„ch von abstruser Umst„ndlichkeit macht er dem Sohn deutlich, da… er „niemals so, aber vielleicht anders“ auffahren, d. h. zu seinem Geist-Vater, Gott, gelangen kƒnne: Das Leibhaftige machts nicht, am Geist muƒ es haften.77 Die Struktur ist hier in dem fr•hen „Toten Tag“ schon die gleiche wie etwa beim „Sa-tanshinterviertel“ im „Blauen Boll“ und wie letzten Endes noch im „Grafen von Ratze-burg“, wo das Gespenst Bendix aus Heinrichs Adern trinkt und nach der Anweisung „gebl„ht und voller Leben, voll, feurig und stark“78 wird. Das Surrogat-Symbol wird in die B•hnenvorg„nge verflochten, ein Verfahren, das man als pseudo-symbolische Konkretion bezeichnen mƒchte. Sie f•hrt mit zu der f•r das Barlachsche Drama so charakteristischen Entwirklichung der szenischen Reali-t„t.
In gleicher Richtung wirkt, wie wir sahen, der Kommentar, der nicht als Teil eines dramatischen Dialogs in den szenischen Ablauf integriert ist und in einem funktionel-len Zusammenhang damit steht, sondern der eine wesentliche Wirklichkeit in das Vordergr•ndige des szenischen Vorgangs r•cken soll. In dieser Funktion strebt er, vergleichbar mit der Geb‚rde der Barlachschen Plastik, zu einem eigenen Aus-druckswert. Awahs S•ndflutvision zum Beispiel (in der zweiten Szene des vierten Teils der „S•ndflut“) versucht zugleich in einer Art direkter ‡bertragung etwas von der Vorstel-lung des zyklischen „Werdens“, des ewig schƒpferisch-gƒttlichen Kreisens zu vermit-teln. Zus„tzlich noch lautet hier die Szenenanweisung: „Sie ahmt die Bewegung von Wellen mit den H„nden nach“79, so da… man sich unmittelbar an einen Aus-druckstanz der zeitgenƒssischen Mary-Wigman-Schule erinnert f•hlt: Schwere schleicht auf leichten F•ƒen, h€rt ein Wort und wirft den Schwall der ewig leichten Herrlichkeit ans Herz.80 Dieser Satz enth„lt alle Merkmale der Stilisierung, die den Kommentar zu einer selb-st„ndigen Ausdrucksgeb„rde aufhƒht und die schlie…lich – besonders deutlich im „Findling“, in der „Guten Zeit“ und im „Grafen von Ratzeburg“ – die Sprache auch im Nebens„chlichen ergreift. 77 „Der tote Tag“, D 81. Vgl. Erich Gutkind: „Weil wir nicht in heiliger Armut frei schweben, darum haf-ten wir an der Leiblichkeit.“ (Siderische Geburt 133) 78 „Der Graf von Ratzeburg“, D 529.
Diese Merkmale sind ein Vorherrschen der Substantive, die allen Sinn auf sich ver-sammeln und deren sprachliche Beziehung zueinander durch Reihung und kompli-zierte F•gung oft fast g„nzlich verschleiert wird; eine Tendenz zur Substantivierung von Adjektiven und Verben, insbesondere zur Abstrakta-Bildung auf -ung, -heit und -keit und schlie…lich die Alliteration, die besonders im „Findling“ oft •ber die Grenze des Ertr„glichen getrieben wird.
Alle aufgef•hrten Merkmale finden sich in folgendem Beispiel aus dem „Findling“: Man muƒ wissen, der Wuttanz ist seine t‚gliche Bet‚ubung – und wenn nicht Wut, so doch die Wonne der Unw•rde, Schaugepr‚nge und Schwelgerei in Besch‚mung seiner und meiner Unsch€nheit. Der Sinn ist – in diesem Geschiebe der Stabungen und Abstraktionen – auch beim Lesen nur noch m•hsam zu greifen. Auch im „Grafen von Ratzeburg“ herrscht die AlIiteration („Verdoppele die D•rre mei-ner t„glichen zwei Datteln“81, „Sag mir, du Wissender, ob solcher Weg des weitern Wanderns lohnt“82) und verbindet sich mit Substantivierungen und Abstrakta-Bildungen zu F•gungen wie „Greift auch den Schuldigen an seiner Schuld, legt eure H„nde auch auf den Sch•rer seiner brandigen Bescholtenheit“83, in denen die Sprachgeb‚rde das Vermƒgen des Hƒrers derartig beansprucht, da… er den Sinn kaum noch vollziehen kann. Diese Stilisierung hat ihre besondere Funktion in jenen Kommentaren, in denen die Summe des St•ckes gezogen wird: Diese Lust bequemt sich keines Wortes und keines Horchens auf den Ruf •ber Strom und Eis und keines Geheiƒes, das anderes heischt als die wahre Gewiƒheit, die da leise spricht wie die Unh€rbarkeit meines eigenen Sinnes.84 Hier wird die Sprache selbst Geb‚rde und bekommt, indem sie den Hƒrer in einen Zustand der Ergriffenheit und Entr•ckung zu versetzen sucht, eine Funktion be-schwƒrender Verweisung auf jenen Gehalt, der sich als ein trans-dramatischer und transzendenter schlechterdings nicht im dramatischen Gebilde versinnlichen l„…t. Es ist eine genaue Entsprechung zur Geb„rde der Barlachschen Plastik, denn auch die-se Geb„rde sucht •ber das plastische Gebilde hinaus auf einen trans-plastischen Gehalt zu verweisen.
Noch auf ein letztes Ph„nomen mu… hingewiesen werden, das mit dem eben Ausge-f•hrten eng zusammenh„ngt. Wo die Sprache als Kommentar und Geb„rde •ber die Szene hinausweist, anstatt sie als dramatische Szene zu konstituieren, lƒst sich das Wort vom Sprechenden ab. Die Sprache steht als ein selbst‚ndiges Medium •ber den Figuren, gehƒrt ihnen nicht als autonomen dramatischen Gestalten an, sondern wird durch sie hindurchgesprochen. So wird es zuletzt beliebig, wer den Kommentar spricht. Wie Spruchb„nder lassen sich die Kommentare oft von den Figuren ablƒsen und zusammenf•gen. Im „Findling“und in der „Guten Zeit“ wird dies besonders deutlich, und es l„…t sich hier ebenso wie im „Grafen von Ratzeburg“ zeigen, da… – was nur eine Folge der Verselbst„ndigung 81 „Der Graf von Ratzeburg“, D 543.
82 „Der Graf von Ratzeburg“, D 546.
83 „Der Graf von Ratzeburg“, D 560.
84 „Der Graf von Ratzeburg“, D 571.
des Sprachmediums ist –, der Dialog zu einer gleichm„…igen Sprachhƒhe und -stilisierung bei allen Figuren hinstrebt.
F•r die „S•ndflut“ gelten die Merkmale, die hier im Blick auf das gesamte dramati-sche Werk Barlachs gekennzeichnet wurden, nur in einer Auswahl. So fehlt beispielsweise das Surrogat-Symbol. Es hat in diesem zeitlosen alttestamen-tarischen Raum mit seinen •bernat•rlichen Personen, der von vornherein nicht – wie im „Blauen Boll“ und den „Echten Sedemunds“ – ein Raum allt„glicher Wirklichkeit ist, der erst geƒffnet werden m•…te, keine Aufgabe. Tats„chlich gelingt in diesem Raum ein Zusammenhang von Handlung und – in der Trias Gott-Noah-Calan – eine in gewissem Sinn dramatische Konstellation, die die „S•ndflut“ vor den anderen Dramen Barlachs auszeichnet.85 Die Struktur ist jedoch im Grunde nicht ver„ndert. Denn ebenso wie der triviale All-tagsraum im „Armen Vetter“, in den „Echten Sedemunds“ und im „Blauen Boll“ bleibt der Handlungsraum der „S•ndflut“ Vordergrund vor einem Hintergrund der Eigent-lichkeit, auf den nur wieder im Kommentar verwiesen werden kann: in Calans Kom-mentaren vom „grƒ…eren Gott“, in Awahs „eurhythmischer“ Vision vom Werden der „ewigen Herrlichkeit“ und vor allem in Calans Schlu…kommentar. Calans Wandlung zu restloser Selbsthingabe ist auch hier „durch Motivierungen ebensowenig begreif-lich zu machen wie ohne sie“86, und seine Schlu…worte, auf die hin alles angelegt ist, kƒnnen allein als die ekstatische Verk•ndigung, die sie sind, nicht als Konsequenz des Geschehens begriffen werden.
V. Die Gebrochenheit der dramatischen Form Alle Eigent•mlichkeiten, die wir, ausgehend vom Schlu…kommentar der „S•ndflut“, als kennzeichnend f•r Barlachs dramatische Form herausgestellt haben – den Kom-mentar, die Surrogat-Symbolik, die Stilisierung der Sprache und ihre Ablƒsbarkeit vom Sprechenden, lassen sich auf eine gemeinsame Grundstruktur zur•ckf•hren: die innere Aufhebung der Form als einer die Einzelelemente in sich integrierenden Ganzheit – und damit des eigentlichen Elements des Dramatischen. Die Integration des einzelnen zum Proze…, die f•r das Drama gerade grundlegend ist, gelingt nicht mehr. Selbst wo Barlachs St•cke auf kurze Strecken etwas wie dramatisches Leben gewinnen, erscheinen die Einzelelemente mehr wie aufgereiht. Nicht der szenische Ablauf wird Proze…; vielmehr wird das, was hinter der Szene als Proze… vorgestellt werden soll, im Kommentar in die Szene eingeblendet.
Nach der schon zitierten ‹u…erung Barlachs zum „Blauen Boll“ zu urteilen, wonach die Motivierungen nur „gleichsam als Wegemarken des Geschehens“87 im „Hinter-grund der Vorg„nge“88 wahrzunehmen sind, ist die Integration zum dramatischen Proze… gar nicht beabsichtigt. Barlachs Absicht geht nicht auf die Darstellung einer geschlossenen dramatischen Welt nach den •berkommenen Formkategorien des Dramatischen. Die Sprengung des dramatischen Gef•ges wird vielmehr zu einem Mittel in dem Versuch, seine eigentliche Aussage, seinen neuen inhaltlichen Entwurf zu realisieren. Doch in dieser Entwirklichung der dramatischen Struktur als eines „sthetisch imma-nenten Zusammenhanges stellt Barlach nicht allein das Drama als •berkommene 85 Zusammen mit dem „Armen Vetter“ (46mal) gehƒrt die „S•ndflut“ (43mal) zu den meistgespielten Dramen Barlachs.
86 Ernst Barlach an Curt Elwenspoek, 26. September 1926, B II 75 f.
Form k•nstlerischer Gestaltung und Aussage in Frage, sondern •berschreitet schlie…lich die Grenze des k•nstlerisch Realisierbaren •berhaupt, da ein Medium f•r die Versinnlichung seines Gehaltes nicht mehr gewonnen werden kann. Was sich als Vorgang sinnlich darstellt, ist eben das Uneigentliche, und der Erweis seiner Unei-gentlichkeit ist das letzte und innerste Anliegen der Aussage. Deshalb wird der Wirklichkeitscharakter dessen, was Barlach theatralisch darstellt, st„ndig durchbrochen, zur•ckgenommen und mit einem Verweis auf einen Raum absoluter Transzendenz versehen, der sich selbst jeder Versinnlichung entzieht. So ist die Gestalt des Barlachschen „Dramas“ nicht das Medium, durch das die Aussage zur Mitteilung kommt, nicht ihre unmittelbare k•nstlerische Verkƒrperung, sondern letzten Endes nur sekund„rer Sinntr„ger, Vehikel f•r eine Botschaft, die jenseits sei-ner Ebene liegt und auf die nur noch die Geb‚rde beschwƒrend verweisen kann.
Diese Gebrochenheit der Form stellt Barlachs Drama (der Terminus wird mit Vorbe-halt weitergebraucht) in den grƒ…eren Zusammenhang des expressionistischen Dra-mas, das in seinem Versuch, die Erfahrungs-Wirklichkeit f•r ein Wesenhaftes und Absolutes durchsichtig zu machen, ebenfalls das geschlossene dramatische Gef•ge sprengte, indem es diese Wirklichkeit ekstatisch •berhƒhte. Die Besonderheit des Barlachschen Dramas innerhalb dieses allgemeinen Zusammenhanges besteht dar-in, da… es (zumal in St•cken wie „Der arme Vetter“, „Die echten Sedemunds“, „Der blaue Boll“) nicht von vornherein und gleichm„…ig von dieser Stilisierung ergriffen und •berhƒht wird, sondern da… die ekstatische Verweisung meist aus einem Raum allt„glicher Wirklichkeit heraus erfolgt, allerdings in der Weise, da… dessen Realit„ts-charakter immer mehr aufgehoben wird.
Auch von seinem inhaltlichen Anliegen her gehƒrt Barlach in den weiteren Zusam-menhang der expressionistischen Dramatik und ihrer Vision von der Erneuerung des Menschen – bei Barlach nirgends aufs Soziologische und Kulturelle, sondern immer radikal aufs Existentielle und Metaphysische gewandt. Die Sehnsucht ist zuletzt gewiƒ, Die in mir zehrt mit weinendster Gewalt Nach meiner gott-urspr•nglichen Gestalt – dieses Zitat aus Werfels „Spiegelmensch“89 macht den Zusammenhang deutlich.
Schon bei der Betrachtung der „S•ndflut“ wurde offenbar, da… bei dieser religiƒsen Erneuerung des Menschen nicht die christliche Heilslehre im Spiele ist. Wo sich sol-che Elemente finden (im „Armen Vetter“ etwa „Ostern“, „Opferlamm“ und Euchari-stiemotiv, in der „Guten Zeit“ das stellvertretende Opfer am Kreuz, im „Findling“ das „neugewordene Kommen des Kindes“90 und vor allem im „Grafen von Ratzeburg“, dessen Stationen die Christophoruslegende zugrunde liegt), unterlegt sie Barlach lediglich, um seine eigene Heilsbotschaft dem Empf„nger ann„hern zu kƒnnen.
Die Ann‚herung an die Form der christlichen Legende im „Grafen von Ratzeburg“ ist besonders aufschlu…reich, denn sie liegt in der inneren Tendenz der dramatischen Mitteilung Barlachs. Wie das geheime Vorbild seiner Plastik die gotische Plastik und die Buddhastatue war, so liegt auch hier die Ann„herung an eine Form vor, die einen vorgegebenen Inhalt vergegenw„rtigt. Barlachs Inhalt aber bleibt demgegen•ber „Entwurf“, der weder au…erhalb des plasti-schen oder dramatischen Gebildes dargestellt noch durch es verkƒrpert werden 89 Franz Werfel, Spiegelmensch. Magische Trilogie, M•nchen 1920, S. 216.
90 Ernst Barlach an Paul Schurek, 31.12.1935, B II 602.
kann. Er kann, als Eingehen des Helden in das „Wissen •ber alles Wissen“, nur ganz abstrakt als „Heilsfindung“ bezeichnet werden, „Aufgehen des Persƒnlichen im ‘‡ber-persƒnlichen’“91. Dieser Inhalt bedingt auch die Gebrochenheit der dramatischen Form Barlachs; denn er ist, streng genommen, kein Inhalt, sondern ein Zustand, der durch das Medium der b•hnenm„…igen Vorg„nge hindurch beim Empf„nger der Barlachschen Botschaft hervorgerufen werden soll.
Im Herbst 1932 wurde der 20j„hrige Berliner Theologiestudent Wolf-Dieter Zimmer-mann durch eine Auff•hrung des „Blauen Boll“ sehr beunruhigt: „Die Menschen waren nur Menschen, dann aber verkƒrperten sie auch wieder mehr. Vergebung und Ents•hnung vollzog sich indirekt, ohne kultische Si-cherheit und liturgische Formel. Und das Werden endete auch nur in einer Art von besserem – verantwortungsbewu…terem – Menschsein. Damit bin ich nicht fertig worden. Ein Werden, das nicht in christlichen Glauben m•ndet und in bewu…ter Kirchenmitgliedschaft endet, war mir fremd.“92 Tief beunruhigt schrieb er deshalb an Barlach. In seinen Erinnerungen liest sich das so: „Kirche – das war der Ort des besseren Lebens und des tieferen Wissens. Und nun Boll – er stand daneben und blieb ohne jede Hinwendung zur Reli-gion. Ein rein humanistisches Werden – war das nicht eher L„sterung als Of-fenbarung? Dennoch: Diese Perspektive des Werdens, eines Werdens, an dem Gott und Teufel beteiligt sind, hat mich aufgeschreckt. Am meisten stƒrte mich, da… der Ausgang bei der ganzen Sache offenblieb, da… nicht erkennbar wurde, ob Boll zuletzt nun Heide bleibt oder Christ wird, als Geretteter lebt oder wieder sich selbst verf„llt. Ein Punkt auf einem Weg wurde beschrieben; aber was kommt danach, und wie geht’s weiter? Einige Wochen sp„ter schrieb ich an Barlach. Ich werde wohl nicht allzu verst„ndnisvoll geschrieben haben, als angehender Theologe mit vorgegebener Christen-Perspektive.“93 Ernst Barlach antwortet ihm aus G•strow am 18. Oktober 1932:94 Sehr geehrter Herr, zu ein paar Worten reicht es – eine ausreichende Gele-genheit findet sich nicht; seit Jahren konnte ich nicht nach Wunsch ausf•hrli-che Antworten auf Zuschriften gleich der Ihrigen geben.
Lassen Sie bitte zu, da… ich Ihre theologischen Einw•rfe und Darlegungen beiseite schiebe. Da… ich kein Theologe bin, d. h. nicht theologischen Vorstel-lungen verpflichtet, wissen Sie; ich bin auch kein Philosoph; das ist, was ich gelernt habe und nun wei… – indes, wenn ich sage, da… ich es wei…, so beruht das doch auf einem Wenig Einsicht in das Philosophische. Aber das schaltet sich von selbst aus; wir brauchen also nicht philosophisch zu debattieren. Es bleibt •brig, da… ich K•nstler bin, doch wohl ausschlie…lich. Meine Mƒglichkei-ten des Ausdrucks sind daher die k•nstlerischen. Ich kann, ob so oder so ist nicht die Frage, gestalten; meine Gestalten sind gut, wenn sie echt sind, schlecht, wenn sie aus der Spekulation kommen; sie reden aus sich, nicht aus 91 Ernst Barlach an Wolf-Dieter Zimmermann, 18.10.1932, B II 327.
92 Wolf-Dieter Zimmermann, Gerechtigkeit f•r die V„ter, Berlin: CVZ-Verlag 1983, S. 162 f.
94 Ernst Barlach an Wolf-Dieter Zimmermann, 18. Oktober 1932, B II 326-328.
mir, und so sind sie verst„ndlich oder unverst„ndlich – je nach der Empf„ng-lichkeit des Betrachters. Was ich f•r mein Teil, als Mensch und Zeitgenosse, meine und denke, hat nat•rlich mit meinen Gestalten zu tun, sonst w•rde ich sie nicht in mir lebendig werden f•hlen. Ich bin also in ihnen allen mit drin und gewi… ein schlechter Parteig„nger, d.h. die sympathischen oder •blen Charak-tere gelten mir gleich – f•r mein Teil, vor mir selbst versuche ich redlich zu sein; wobei es sich dann wohl ergibt, da… ich mich mit besonderer Energie ei-ner „edlen“ oder „erhabenen“ Gestalt annehme, ohne darin irre zu werden, da… wir alle gleichen Urgrunds sind, und ich weder zum Richten noch zum Werten befugt bin.
Sie sind jung, ich bin alt, wollte ich Ihnen meine letzten Weisheiten auskra-men, so t„te ich Unrecht. – Was werden kann, geschieht – ich wei… nicht wo-durch oder warum. Gewi… ist, da… jeder sein Teil selbst erleben, erk„mpfen und erleiden mu…. Die Phasen des Daseins tun mit uns, was ihres Amtes ist, sie durchzuleben kann nimmer umgangen werden, keine darf abgek•rzt oder •berschlagen werden. Was mir vor 10-20-30 Jahren unerhƒrt wichtig erschien, die Probleme, an denen man zu verbluten bereit gewesen w„re, sind eines schƒnen Tages abgetan. Es geht eine neue Sonne auf, und nichts kann ge-wisser sein als die Wichtigkeit des Neuen und die Abgewelktheit des Alten. Zum Werden verhilft einzig bereit sein – in ehrlicher Unerschrockenheit und mit dem Willen, keinerlei Dogmatik •ber sich Gewalt zu lassen. Man wei… viel-leicht, auch dieses andere, dieser neue Berg, wird •berstiegen, das Kommen-de ist unerrechenbar – bis man steckenbleibt und zum Beharren gezwungen wird, weil die Natur nicht weiter kann, deren Spannkraft in uns verschieden ist. Die Umgrenztheit eines bestimmten, religiƒsen, philosophischen oder allge-mein weltanschaulichen Daseins ist gewi… ein Gl•ck, gewi… kein Verdienst. Ich will gestehen, sie scheint mir oft beneidenswert – aber es ist mir nicht ge-geben. Das Werden in mir ist schrankenlos, solange ich Vertrauen habe, da… es mich hebt. Aber wenn es mich wer wei… wohin br„chte, ich w•rde nicht ein Wort der Klage finden.
Um vom „Bl. Boll“ zu sprechen – er hat „Schwere und Streben“ in sich, er ge-langt nicht •ber sich hinaus trotz seines Woher, Warum, Wozu? Es ist die un-begreifliche Herrlichkeit im Geschehen, von der ich glaube, da… sie ewig ver-borgen ist; man kann wohl nie mit dem Finger daran tippen, nie ihren Zweck einsehen. Manchmal scheint mir innerste Erfahrung auf das Aufgehen des Persƒnlichen im „‡berpersƒnlichen“ (was ist das aber nun?) als Erlƒsung und Lƒsung aller menschlichen Kreatur zu weisen. Ich bin dann sicher, da… der Teil und das Ganze in eins fallen.95 Aber dem Menschen ist das Persƒnlichsein eingeboren, er personifiziert un-weigerlich das Ganze und setzt es als anderes gegen sich, den Teil. Und wenn man, wie ich zum Gl•ck oder Ungl•ck, ganz und gar K•nstler ist, so ist man unbedingt Gestalter, d. h. dem Persƒnlichsein verfallen; da ist ein Fluch •ber mir, der mich zur L„sterung des Heiligen bringen w•rde, wenn nicht das Wissen um Heil und Heiliges etwas selbstherrlich sich etablierte, ein Wissen, dem zu entsprechen man nie bereut, das man allerdings in seinen Ausdrucks-formen stets bereit sein mu…, sich wandeln zu sehen. In meinem „Findling“sagt ein 95 Erich Gutkind: „Jedes Einzelne steht in der Allheit, und Allheit ruht in jedem Einzelnen.“ (Siderische Geburt 21) Beter: Armer Freund, muƒt du mich auch arm machen? Ich war drauf und dran, im Wohl zu ertrinken, und rettest du mich in die gemeine Ge-w€hnlichkeit? Ich fing da an, womit das Ende abschlieƒt, ich merkte was davon, worauf es bei allem hinausl‚uft – und nun . Beter: Kein Anfang, Freund, und kein Ende – es geht nicht mit Worten zu, es f‚ngt mit Stillschweigen an. Die Zunge ist dabei das aller•ber-fl•ssigste, und was am letzten gilt – es l‚ƒt sich nicht sagen, hinter der Zunge und hinter den Worten f‚ngt es an. (Heult.) Es ist vorbei, und ich muƒ reden, weil ich nichts weiƒ!96 Sehen Sie, man will „wissen“ und verlangt nach dem Wort, aber das Wort ist untauglich, bestenfalls eine Kr•cke f•r die, denen das Humpeln gen•gt.97 Und dennoch ist im Wort etwas, was direkt ins Innerste dringt, wo es aus dem Lau-tersten, der absoluten Wahrheit kommt. Jeder aber versteht es anders, er ver-nimmt das, was gem„… seiner Art Anteil am Ganzen, ihm verst„ndlich, sage lieber, wessen er sich bewu…t wird. H„ngt er sich an Auslegung, Gemeinver-st„ndlichkeit, so kann er wohl seinen Trost haben, da es f•r ihn nichts Besse-res gibt.
Man soll niemand aus dem H„uschen seines Trostes scheuchen. Es gew„hrt doch ein Dach, aber ich argwƒhne doch, da… volle Verzweiflung in hƒchste Gewi…heit f•hren kann. Das Nichts am Wortm„…igen mag wohl noch ans Ab-solute grenzen – Zahl, Ton, reine Form sind Heger der Geheimnisse, Worte sind nicht eine Sekunde das Gleiche – man sagt „Gott“, und jedermannes Be-lieben macht sich daran. Ich bin des Wortes schon lange satt, und es kommt mir doch immer wieder auf die Lippen. Wenn ich •berhaupt f•r das Hƒchste, f•r das meiner Meinung nach der Mensch kein Augenma… hat, wie er mit dem kƒrperlichen Auge ja auch nicht den unendlichen Raum als Tiefe erfa…t, son-dern als Fl„che, die letzten Sterne scheinen neben den n„chsten zu stehen –wenn ich also vom Hƒchsten wortwƒrtlich abhandeln wollte, so w•rde ich viel-leicht der Vielgƒtterei den Vorzug geben. Da kann man, ohne rot zu werden, von „dem“ Gott reden, der ja dann ein Mannartiges w„re, oder von „ihr“, der Gƒttin so und so, oder von meinem, dem deutschen oder gar nationalisti-schen. – Und nun liegt doch wieder Gewalt und Zeugnis vom nach menschli-chen Begriffen Erhabensten in der Art der Vertonung und Wortlaut des: „Hei-lig, Heilig ist der Gott Zebaoth, und alle Lande sind seiner Ehre voll.“ – Wer’s hƒrt, der hat’s, aber wer ausdeutet, der begreift es nur, hat einen Plunder von musikalischem oder sonstigem Fachwissen in H„nden.
Ich bitte wegen der Schrift um Nachsicht, ich arbeite •ber Tag, und das Hand-gelenk ist unsicher.
Dem habe ich nichts mehr hinzuzuf•gen. Ich danke Ihnen f•r Ihre Aufmerksamkeit! 96 Zitat korrigiert nach: „Der Findling“, D 314 f.
97 Erich Gutkind: „Die Sprache endet, denn siderische Geburt will heute anheben •ber den stammeln-den Zeichen; Erden-Sprache kann uns nicht mehr gen•gen, wir wollen mehr als Sprache.“ (Siderische Geburt 29)

Source: http://www.pkgodzik.de/fileadmin/user_upload/Barlach-Dramen/Barlach-Vortrag_Magdeburg.pdf

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