Das Mögliche schreiben 0. Topographien des Terrors Erscheinungsfelder des Münster-Girls (Auswahl): Malmedyweg; Grüner Grund; Sentruper Höhe; Habichtshöhe; Himmelfahrtsallee; Prinz- Eugen-Straße; Siverdisstraße; Korduanenstraße; Hedwigstraße; Gertrudenstraße; Hoya- straße; Dürerstraße; Zeppelinstraße; Hindenburgplatz; Neubrückenpromenade; Mauritz- Lindenweg; Zum Guten Hirten. Erscheinungsfelder des masturbierenden Kindes (Auswahl): Sprickmannstraße; Killingstraße; Hoher Heckenweg (Teile); Alfred-Krupp-Weg; Am Berg Fidel; Am Burloh; Olfersstraße; Nienkamp; Hafenstraße; Kinderhauserstraße/Abschnitt Landeskrankenhaus aka Marienthal. Eigentlich: alles außerhalb des Lindenkranzes, der Promenade, des Grüngürtels, alles außerhalb der Stadtgrenzen von 1417 oder was auch immer. Ergebnisse des studentischen Projekttutoriums „Nachlassverwaltung“ an der WWU Münster, WS 2011/2012. Unser Bericht stellt die Ergebnisse des studentischen Projekttutoriums (PT) Das Mögliche Schreiben vor, das im Wintersemester 2011/2012 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattfand. Selbstorganisiert trafen sich die Studierenden ein Mal pro Woche, um sich in der Praxis der Verwaltung und Edition literarischer Nachlässe zu üben. Aus Mangel an geeignetem Material wählte unsere Gruppe die Unterlagen einer verstorbenen Kommilitonin (im folgenden: die Vf.), die einem Mitglied des PT nach deren Tod von den Eltern der Vf. über- lassen worden war. Zum besseren Verständnis unserer Betroffenheit und unseres Interesses hier
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1.1 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier eine Einordnung des Vorgangs. Am 1. Oktober 2010, drei Wochen nach ihrem 27. Geburtstag, und pünktlich zu Beginn des vierten Quartals 2010, setzte sich die Vf., damals Mitarbeiterin des Germanistischen Seminars der WWU Münster, auf ihr Fahrrad und fuhr von ihrer Wohnung in der Kanalstraße stadtaus-wärts. Polizeiliche Rekonstruktionen haben ergeben, dass sie ein Stück über den städtischen Grüngürtel (Promenade) fuhr, beim Hindenburgplatz nach links abbog und immer weiter Richtung Weseler Straße radelte, schließlich vor dem Park-and-ride-Stellplatz und vor der Auf-fahrt zur A1 nach Mecklenbeck abbog und dann ihr Rad beim Bahnübergang in der Nähe der Heroldstraße an einen Fahrradständer anschloss. Zwischen 15 Uhr und 15.20 Uhr betrat sie schließlich die Gleise und ging dem Regionalexpress RE 21567 Richtung Rheine entgegen, der nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, um zu verhindern, dass das Leben der Suizidentin wunschgemäß ein vorzeitiges Ende fand. Nach dem Aufbrechen ihrer Wohnung fand sich, neben einigen mit Namen der Empfänger versehenen Häufchen von Erbgegenständen, eine Pappmappe (grau, ein ELBA Fabrikat ohne Heftmöglichkeit), auf deren Deckel handschriftlich und in Druckbuchstaben der Name „C.“(wir schreiben den Namen hier nicht aus, da seine Eltern für eine Zustimmung zur Ange-legenheit nicht zu erreichen waren) zu lesen ist. Dabei handelt es sich um einen der engsten Freunde der Vf., der seinerseits sechs Jahre zuvor, am 30. Juni 2004, von eigener Hand aus dem Leben getreten war; er hatte sich ebenfalls von einem Zug überfahren lassen, wählte dazu jedoch einen Bahnabschnitt in der Nähe von Münster-Hiltrup und schloss ebenfalls sein Fahrrad nicht ab, da es sich dabei um ein von ihm gestohlenes Rad handelte, wie erst einige Zeit später festgestellt werden konnte. Die TeilnehmerInnen des Projekttutoriums haben versucht, die Inhalte dieser Mappe, die unge-ordnet waren, nach Text- und Erscheinungsformen zu ordnen. In Rücksprache mit den Eltern der Vf. wurden diese Dokumente zum Teil mit passenden Tagebucheinträgen in Bezug gesetzt, um einen Zusammenhang zu den Inhalten herzustellen. Editorische Anmerkungen des PTs sind in eckige Klammern gesetzt. Die meisten der folgenden Blätter stammen aus verschiede-nen Spiralbüchern, blanko, DIN A 5, oft in der Mitte durchgerissen, meist ohne Datum. Soweit Tagebucheinträge eine Zuordnung zu einem bestimmten Zeitraum zulassen, hat das PT ein Datum hinzugefügt. Charakteristisch für den Text sind beispielsweise die vielen Akronyme, die vor allem für Eigen-namen verwendet werden. Um nicht zu stark in den Text einzugreifen, haben wir sie an den meisten Stellen nicht aufgelöst.
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1.2 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier 1. Poesie-Album [Ein Oktavheft, DIN A 6, Firma: Geha. Liniert. Etwa zehn Einträge, offenbar in Müdig- keit und mit fahriger Hand aufgeschrieben. Mutmaßlich Mitschrift beim Lesen vor dem Einschlafen, entsprechende Vergleiche mit den bezeichneten Werken weisen z. T. Unter- streichungen auf, die mit den hier zu lesenden Zitaten identisch sind.] 1.1 Um die depressive Person schrittweise aus dem Kerker akuter affektiver Störungen zu befreien und zu einem halbwegs normalen Leben zu verhelfen, wurde zusätzlich verord- net: Paxil, Zoloft, Prozac, Tofranil, Welbutrin, Elavil, Matrazol, letzteres in Kombination mit unilateraler Elektrokonvulsion (während einer zweiwöchigen freiwilligen, stationären Aufnahme in einer Landesklinik), dazu Parnate (mit und ohne Lithiumgaben), Nardil (mit und Xanax). Keines der Mittel zeigte auch nur die geringste Wirkung auf die Stim- mungslage der depressiven Person und ihrer emotionalen Isolation, die jede ihrer wachen Stunden in eine Hölle auf Erden verwandelte, wohingegen sich bei vielen Medikamenten Nebenwirkungen einstellten, welche von der depressiven Person als unerträglich bezeich- net wurden. DFW, DDP: 56 1.2 In aller Welt bin ich um sieben Uhr abends gefährdet. Ich verfalle in Melancholie und Angst, wenn ich allein bin, nicht abgelenkt werde von meiner um diese Zeit immer unru- higer werdenden Seele, nicht unter Menschen verweile oder im Kino sitze, manchmal bekomme ich auch Todesangst, ja, ich bekomme sie, sie wird mir gegeben und ich darf sie als Geschenk annehmen, ob ich sie will oder nicht, die Angst, die gar nichts mit Tod und Sterben zu tun haben muss. JW, R: 155 1.3 So wollen wir gedämpft und in ordentlicher Haltung, gesenkten Kopfes den beklagen, der uns in Freiheit verließ. JA, HASL 1.4 Der Text, der ich selbst bin, hält das aus. RP, SIDAGV
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1.3 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier 2.1 [Ausschnitt aus einem längeren Text: „Wie die Fliegen“ (2004). Handelt von der Beerdi- gung des C., der im Text allerdings „Maximilian Schell“ genannt wird, jedoch als Freund einer fiktiven Dreiergruppe (Beat, Gudrun, Franz) auftaucht. Auf der Hinfahrt überfährt der Erzähler ein Reh, was zu einer angespannten Situation in der Dreiergruppe führt. Jugendkonflikte brechen auf. Die Kommentare hier finden sich handschriftlich, mit roter Tinte auf einem Ausdruck des Textes. Die vorliegende Textstelle wurde ausgewählt, da sie besonders dicht kommentiert ist.] Also holte ich die Picknickdecke und die Kommentar: Latex
Plastikhandschuhe aus dem Verbandskas-ten. Ich zog die Plastikhandschuhe über und
Kommentar: Das ist das x-te Mal in diesem Text. Dieser
überlegte, dass nun wohl kaum schon der
Erzähler denkt so viel. Vielleicht könnte er mehr machen, und warum eigentlich ein er? Alles, was den Text näher zu
Zeitpunkt wäre, an dem es gefährlich wäre,
mir bringt, sollte gut für den Text sein, aber alles, was ich
dieses tote Tier zu berühren. Ein großes
mache, ist dazu angetan, mir den Text vom Leibe zu halten. Kommentar: Würde hier nicht reichen: Ich wollte unbedingt?
berühren, und seine Flanken zu fühlen, eine
Wer oder was soll dieses Verlangen sein? Und wenn schon
seltsame, eine persönliche Entscheidung.
Verlangen: Muß es denn auch noch „groß“ sein? Wie ist das überhaupt mit einem Verlangen (also nicht: Ich
Dieses Reh hatte nicht gekämpft. Es han-
verlange Salz): ist das nicht an sich ein großes Gefühl?
delte sich hier um das Sterben eines großen
Säugetieres, hoffentlich ohne Kitze. Ich
Kommentar: Ärmlicher Wortschatz, siehe oben.
streifte die Handschuhe wieder ab, fühlte
Kommentar: Was wäre denn eine unpersönli-
seine Flanke: einen Moment nur. Ich redete
che Entscheidung, also in dieser Situation?
weiter ein bisschen auf das Reh ein, als ich
Kommentar: Was kümmert das hier? Wer hofft? Albern.
fuhrwerkte. „Wir haben dir nicht geholfen,
Kommentar: Das Rehkitz verhält sich zum Rest der Tierbaby-
aber das war keine böse Absicht, weißt du,
welt wie die Schaumgummierdbeere zum Rest der Zuckerchen-welt. Zuviel und allen wird schlecht von soviel Süßigkeiten.
wir haben das nicht besser gewusst, weil wir nicht wussten, dass du es bist, aber das
Kommentar: Sehr kreatürlich, sehr prätentiös. Überleg
darfst du nicht übel nehmen, denn momen-
doch mal, vergegenwärtige doch mal den Vorgang, der eigentlich beschrieben werden soll: Ein totes Reh
wird in einen Kofferraum gehoben. Mir kommt es so
aber den von Beat hatte ich zwischendurch
vor, als wäre das wirklich schon sensationell genug, als müsste man da nicht noch mit „Flanke“ ankommen.
schon kurz vergessen.“ Nach Jägerart fasste ich beide Hufpaare zusammen und hob es in
Kommentar: Einreden – ein bisschen. Ich glaube nicht.
einer großen Anstrengung auf die Picknick-
decke, das ausgetretene Blut machte immer
Kommentar: So viel Empathie macht würgen.
wieder ein Geräusch wie Gummistiefel, die
Kommentar: Ich glaube, so viel Blut verliert
nicht mal ein 200 kg Reh, das stirbt. Auch wenn es Dir hier in den Kram passen würde. Kommentar: Warum gerade Gummistiefel? Andere Schuhe machen doch auch Geräusche.
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1.4 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier 2.2 [Word-Dokument. Datiert: 27.3. 2005. Dokumentname: Münster-Girl. Vermutlich eine Tonband-Mitschrift.] Ich will mit Dir heute über den C. reden. Ich habe Dir ja erklärt, dass ich an so einer Sache über ihn arbeite. Weißt Du, wie sie Dich genannt haben im Theater, hinter deinem Rücken?
Ich finde das gar nicht so schlimm. Ich glaube, also, das war wahrscheinlich, weil da viele auch nicht so hübsche Mädchen waren.
Wann hast Du C. zum ersten Mal gesehen?
Keine Ahnung, auf der Probebühne wahrscheinlich.
Weißt Du noch, was Du gedacht hast?
Nein, keine Ahnung. Ich kann mich nur erinnern, dass er da diese Nummer mit der Hose gemacht hat, die wir dann beim Proben ganz oft gesehen haben, also, wenn er sich unwohl fühlte in seinen Kleidern, er hat ja auch wirklich immer sehr stark geschwitzt, dann hat er versucht, das so zu lösen, in dem er sein T-Shirt aus der Hose, also wirklich: riss und den obersten Knopf aufmachte, und dann das T-Shirt wieder da rein stopfte, dabei machte er immer so Stöhngeräusche, als würde er sich sehr erleichtern gerade.
Vor allem unangebracht. Ich kannte das so nicht. Ich war siebzehn, mir war alles peinlich.
Wie würdest Du Dich selbst zu dieser Zeit beschreiben?
Was soll ich denn dazu sagen? Habe ich ja gerade schon. Ich war siebzehn. Ich wollte am Wochenende in den Go-Park Herford fahren, aber meine Eltern haben mich nicht gelas-sen. Ich war auf dem Mauritz und hab überlegt, welchem Abi-Orga-Komitee ich beitreten
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soll – am Ende ist es die Gruppe „Abiball“ geworden. Ich dachte, ich werde mal Musical-star und kann bei den Städtischen Bühnen anfangen. Ich war extrem irritiert und extrem geschmeichelt, dass sich jemand um mich bemüht, der Schauspieler ist und 28.
Weißt Du, dass C. in seiner Wohnung ein Foto von Dir neben dem von Britney Spears aufge-hängt hatte, in dem sie in nichts als die amerikanische Flagge eingehüllt ist?
Ich habe ihm mal ein Foto von mir gegeben, ja. Ein halbes, die Anna habe ich weggeschnit-ten. Ich fand das komisch. Der hatte aber auch so einen extremen USA-Tick, während der Proben hat er dann ja auch angefangen, sein sehr schlechtes Schulenglisch aufzubessern. Er hat mir dann erzählt, dass er gerade die Lektion bei seinem Hörbuch-Lern-Programm hat, wo man die „I’m-about-to“ Konstruktion lernt. Ich meine: hallo? Das ist wirklich achte Klasse. Sechste, sechste eher.
Ich versuche immer, die Dinge positiv zu sehen. Ich würde also mal sagen: Aha, oder so. Ich wusste ja auch, dass der krank ist und habe mir auch gedacht, dass er sicher Medika-mente nimmt. Da will man dann ja nicht unfreundlich werden. Hast Du den C. als depressive Person wahrgenommen?
Nein, warum? Er hat doch wirklich sehr viel gelacht, sogar dann, wenn es wirklich nicht lustig war. Was glaubst Du warum sich der C. damals für Dich interessiert hat, warum er so verliebt in Dich gewesen ist?
War der das denn? [Pause.] Ich weiß es nicht. Ich hatte lange Haare, so mittelbraun und war dünn, also im Vergleich zu jetzt. Niedlich auch, wenn ich mir das von hier aus angucke. Während meines USA-Austauschs war ich Cheerleader. Das hat dem C. gefallen, glaube ich. Ich habe das Foto noch mal mitgebracht, das ich dem C. gegeben habe: hier. Ich habe den eigentlich gar nicht gekannt und auch gar nicht verstanden. Ich kann mich erinnern: Du wolltest mir den einreden. Du hast gesagt: Die elf Jahre machen gar nichts. Ich glaube jetzt eigentlich, nach dem, was Du mir erzählt hast, stimmt das ja vielleicht sogar. Viel-leicht hätte das wirklich nichts gemacht. Aber ich habe wohl da auch schon gemerkt, dass was nicht stimmt mit dem, ganz grundsätzlich. Irgendwie hatte ich da wahrscheinlich das Gefühl, dass der noch weniger weiß als alle anderen. Der konnte ja gar nichts, immer diese Sache mit der Hose. Irgendwie habe ich die Störung gerochen, glaube ich. Einmal hat er mich besucht, ich meine bei meinen Eltern. Die haben da Sacré-Cœur-Weg gewohnt. Da
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hat er hintereinander weg drei Äpfel gegessen! Drei! Ich meine: dass er halt eigentlich nicht erwachsen war, obwohl er schon so alt gewesen ist, also für mich da, natürlich nicht insgesamt und von heute aus gesehen.
C. hat zu mir gesagt, Du wärest unerreichbar schön.
Das hat für ihn ja auch auf eine Art gestimmt. 2.3 [Word-Dokument. mit Ausdruck. Datiert: 28.01.2006. Betitelt: Pein]
„Es darf nicht ganzes geben, man muss es zerhauen,“ sagte er, dachte ich [handschrift-lich eingefügt: „gegen die Verzweiflung ANLESEN“], während ich auf der Schwelle zum Wohnzimmer stand, das zu betreten mir sinnlos erschien, da die vermisste Uhr prinzipiell nur an entweder dem einen oder dem anderen Ort sein konnte, das soll heißen, dass sie entweder auf dem Nachttisch neben meinem Bett liegen musste oder aber auf der Ablage unter dem Badezimmerspiegel. Ich hatte nun aber schon nachgesehen und nichts gefun-den; dass das Dasein der Armbanduhr an dem einen oder anderen Ort eine Zwangsläu-figkeit haben musste, konnte nun nicht mehr guten Gewissens behauptet werden, weshalb also die Uhr auch an einem anderen Ort als dem erwähnten sein konnte, was aber der Ordnung halber schlicht nicht zugelassen werden konnte. Pünktlichkeit wäre geradezu ein Gebot, dachte ich, eine sogenannte Anforderung an die Freundschaft zu dem C., die bei der ganzen sträflichen, ja abscheulichen Vernachlässigung, derer er sich immer und immer wieder und ohne an jemanden anderen zu denken, schuldig gemacht hatte. Dennoch sollte es dieses eine letzte Mal, während wir also vor dem geschlossenen Sarg stehen würden, der verhindern würde, den von einem Regionalexpress ja nahezu vollständig zerfetzten, geradezu atomisierten Körper noch einmal zu sehen, dieses eine letzte Mal also würde ich mich korrekt verhalten, korrekter als es der C. jemals gekonnt hat. Dazu würde ich aber die Uhr brauchen, dachte ich, auf der Schwelle zum Zimmer stehend und daran denkend, wie unglaublich viele Äpfel er immer gegessen hat mit einem Appetit, der ja nicht anders als unanständig zu nennen ist, ganz ohne darüber nachzudenken, welche Wirkung diese Apfelesserei auf jeden Menschen haben müsste, der noch einigermaßen bei Sinnen ist und wie diese manische Apfelesserei, diese Apfel-Pathologie sich ausgewachsen hatte und wir einmal gar zu spät ins Theater kamen, weil er sich nicht im Stande sah, dieses eine Mal auf seine Äpfel zu verzichten und wir also beim Gemüsehändler Jauch in der Hoyastraße anzuhalten gezwungen waren und schließlich nicht rechtzeitig kamen, weil ich auch in dieser Situation meine Uhr nicht umgebunden hatte, daran erinnerte ich mich also jetzt, meine Uhr suchend auf der Schwelle des Wohnzimmers stehend und daran denkend, wie wichtig es sei, dieses eine Mal, zum sozusagen letzten Termin des sogenannten Römers,
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1.7 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier
der ja nun einmal tot war, pünktlich zu erscheinen, was mir als seiner Freundin naturge-mäß ein Anliegen sein musste.
2.4 [Word-Dokument. Datiert: 30.6.2010. Betitelt: Nein]
Programm des Gleis 22 im JiB (Jugendinformations- und Beratungszentrum, Hafenstraße 34), Mai 2010. 1.5.2010: Record Riots präsentiert: The Wildebeets. 5.5. Record Riots präsentiert: The Spiderbabies. 6. 5. The Black Heart Procession. 7.5. Katzenjammer und Broadcast 2000. 8.5. Mediengruppe Telekommander und Team Rock It!. 9.5. Rocky Voto-lato. 13.5. D.A.O. und Chuck Damage. Usw. Usw. Usw.
Eine Unterhaltung des Münster-Girls mit unserem Schmerzensmann, ca. Winter 2003.
C.: Ich geh echt gern ins Gleis. Das ist wirklich anders. Münster Girl: Ja, ich auch. Viel besser als das Gogo. C.: Anders, würde ich sagen. Münster Girl: Du bist auch anders. C.: Du bist auch anders. Münster Girl: Ich kenne niemanden, der so ist wie Du. C.: Ich habe auch nie jemanden getroffen, der so ist wie Du. Münster Girl: Ich kann gar nicht sagen, warum, aber Du bist wirklich sehr anders. C.: Ich könnte es auch wirklich nicht beschreiben. Münster Girl: Es ist aber auch schon gut, sagen zu können: Du bist anders als alle anderen. C.: Das ist schon viel. Münster Girl: Vielleicht wäre es auch gar nicht so gut, wenn man da mehr drüber sagen könnte. C.: Ja, ‚Du bist anders’ – das ist wirklich schon was. Münster Girl: Willst Du wissen, wie?C.: Nein.
2.5 [Handschriftlich, undatiert]
C. hatte auf seinem Wohnzimmertisch mehrere kleine Stapel aufgehäufelt. Das waren
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1.8 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier
Bücher, CDs, Fotos und Briefe, die er von verschiedenen Leuten erhalten hatte. Zu diesen Stapeln hatte er Zettel gelegt, auf denen die Namen der Personen standen, denen die Sachen seiner Meinung nach zukamen. Auf dem Dachboden hatte er Wäsche aufgehängt, und keiner von uns wusste, was er sich dabei gedacht hatte. Ich meine: man steht nicht eines Morgens auf, wäscht Wäsche, hängt das Zeug auf eine Leine und fährt dann los, auf einem gestohlenen Fahrrad, das man irgendwo in der Nähe von Schienen abstellt und lässt sich dann von einem beschissenen Regionalexpress die Lichter auspusten. So ein Typ ist er ja nicht gewesen, der C., der hat nicht viel an andere gedacht, ich meine: Jemand der auf der Probebühne steht und sich vor den Augen der kichernden Statistinnen die Hose auf-macht, weil es ihn nervt, wie sein T-Shirt da drinsteckt. Wir kannten C. aus verschiedenen Zeiten, Beat kannte ihn schon immer (und enthielt ihn uns vor), Gudrun hatte eine Zeit-lang mit ihm im gleichen Chor gesungen, und ich kannte ihn aus der Zeit, in der wir in den Schuhböden unserer Fußballtaschen Drogen ins Schwimmbad transportierten. Das war noch bevor C. für ein Jahr in die Irrenanstalt ging und bevor er Schauspieler wurde und bevor er wieder zurück in die Stadt kam, in der wir ein paar Jahre vorher Drogen in den Schuhböden unserer Fußballtaschen ins Schwimmbad transportiert hatten. Dort spielte er dann am Theater, und wir alle sahen ihn als Schnapphamster, seine letzte Rolle. 3. Notizen und Exzerpte. Eine Auswahl 3.1 [Undatiert, handschriftlich: Seitenausriss, Spiralnotizbuch, C6. Möglicherweise ein Kom- mentar zur stark bearbeiteten Ausgabe von Hans Mayers „Außenseiter“, die ebenfalls in der Wohnung der Vf. gefunden wurde.]
Wann es zu spät ist. Wenn man nicht mehr sehen kann, dass man nicht verfolgt und bedroht ist, auch wenn es der Verstand erfasst, begreift: Wenn die Seele (und jeder braucht einen Ort, wo er ungestraft : Seele : sagen darf) also in einem ständig alarmierten Zustande ist und [mögliche Ergänzung: „man“] sich mit dem alternden, schwulen Juden identifiziert, der gegen sein Sterben, seine Tötung durch die Gesellschaft anzuschreiben versucht.
3.2 [Vermutlich April 2010: Ein Tagebucheintrag vom 4. April 2010 zeigt an, dass sich die Vf. zu diesem Zeitpunkt wiederholt Milos Formans Film Amadeus angeschaut hat. Eine Kinokarte aus dem April 2002 zeigt an, dass die Vf. bereits damals den Director’s Cut des Films angesehen hat, der als restaurierte Fassung im Schlosstheater an der Melchersstraße lief. Gespräche mit Freunden aus dem Umfeld der Vf. und C. ergeben, dass er sie mög-
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1.9 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier
licherweise begleitet hat. In den folgenden Abschnitten verwendet die Vf. mehrere Male das Akronym WAM, das vermutlich die Initialen von Mozart bezeichnet.]
[handschriftlich, undatiert. Aufzählung von vermutlich zufällig ausgewählten Werken der Filmographie Tom Hucles:]
Ich glaub, mich tritt ein Pferd (1978), Chefarzt Dr Westphall (1983), Amadeus (1984) – W A M, Shelley Duvall Presents: American Tall Tales and Legends: John Henry (TV) (1987), Disney Sing Along Songs: Topsy Turvy (1996), Schräger als Fiktion (2006).
3.3 [Datiert: 19. Mai 2010, handschriftlich]
WAM als perverses KindNein: Tom Hucle als perverses Kind. Zugegeben: Man weiß da nichts Genaues. Idee: C. – WAM – Tom Hucle. Ein hysterisches Lachen, Unverständnis für eine Welt, in der alle unbegründet mehr Nachtisch erhalten als man selbst. Billardspielen bis zur totalen Selbstvernichtung. Tom Hucle jetzt: Fat Elvis C. alterslos – das maturbierende Kind?
3.4 [darangeheftet ein Ausdruck, DIN A 4, chlorfrei gebleichtes Papier, einseitig bedruckt. Undatiert. Bei den Bemerkungen in den eckigen Klammern handelt es sich um persönli- che Ergänzungen der Vf. zu ihrem Exzerpt der Anormalen, bibl.: Foucault, Michel (1975): Die Anormalen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.]
Das zu bessernde Individuum (ZBI) definiert sich dadurch, nicht zu bessern zu
[nicht-perfektibel, muss dadurch schon ein Aufreger des 18. Jahrhunderts sein]
Unverbesserlichkeit fordert immer neue Korrekturmaßnahmen heraus
Dritte anormale Figur: Das masturbierende Kind
Erscheinungsfeld ebenso: Familie, Bett, eigener Körper
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1.10 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier
Masturbation als universelles Geheimnis, von jedem geteiltes Geheimnis
[ist die Masturbation eine Selbsttechnik und was für eine Rolle spielt das dabei]
Anbindung einer Vielzahl von körperlichen und neurologischen Krankheiten an
die Masturbation [Pathologisierung einer Selbsttechnik]
Ätiologisches Paradox: jeder tut es, aber nur einige wenige werden von den ent-
sprechenden Krankheiten befallen und erlangen den Status der pathologischen
Anormale des 19. Jahrhunderts ist der Nachfolger dieser drei Typen von
Anormalen. [Was ist dann der Anormale des 20. Jahrhunderts?]
3.5 [Word-Dokument. Unbetitelt. 30. 09. 2010]
Ideen: kindliche Stars. Von WAM zu Michael Jackson.
Michael Joseph Jackson (*29. August 1958 in Gary, Indiana, gest. 25. Juni 2009 in Los Angeles, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Sänger, Komponist, Tänzer und Enter-tainer. Vom Vater als Kind angeblich nachts auf eine Herdplatte gestellt, um dort die Füße immer schneller auf und ab im Tanz zu bewegen. Das reicht als Grundlage für ein ganzes Werk.
C. (*29. August 1975, bald schon ist vergessen wo, gest. 30. Juni 2004 in Münster/Westf.) war ein deutscher Schauspieler. Von Wohlstand zur Biographielosigkeit verdammt, von Schilddrüsenkrankheit in die Depression getrieben und von Ärzten in die Manie hinein-medikamentiert, überdurchschnittlich nur in der Verzweiflung über die Möglichkeit der Mittelmäßigkeit der eigenen Arbeit, der anderer Menschen, der Liebe.
Ganz langsam nimmt das Lied also Fahrt auf. Bevor es losgeht und es zu einem unver-gleichlich großen Gedöns kommt, hört man das Stammeln eines Kindes, wobei unklar ist, ob es ein Junge oder Mädchen ist. Das Kind redet davon, wie sehr es sich wünscht, dass die Erde ein sicherer Ort wird, ein besserer Platz, für die Kinder. Die Geigenklänge werden größer, von fern ein E-Bass, der wabernd über die Laute eines fröhlichen Getümmels am Kinderspielplatz hinweggeht, sich höher schraubt bis schließlich zitternd Michaels Stimme erklingt: Da ist ein Ort in Deinem Herz, und ich weiß, dass dort Liebe ist. Und jetzt mal den ganzen Scheiß beiseite, so meint Michael das nicht. Er ist auf einer Sendung, das ist eine Mission, so eine kleine alltägliche Liebe tut es nicht für einen König,
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1.11 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier
armselige Unterstellungen über einen großen Missverstandenen. Es geht um die Welt, nicht mal um die Erde, weniger darf es nicht sein, die Welt ist es, der hier ein Pflaster von der Größe mehrerer Universen-Explosionen aufgeklebt werden soll, also sing, Michael: Wenn Du es wirklich versuchst, kannst Du diesen Ort sehen – es gibt dort keine Tränen mehr. Willst Du wissen warum? Es gibt eine Liebe, die nicht lügen kann, die so groß ist, dass vor lauter Glückseligkeit keine Lügen mehr möglich sind. Der Geltungsbereich dieser Aussage: die ganze Menschheit. Hörst Du die John Bahler Singers? Sie singen: Ah. Hörst Du die Geigen? Sie spielen Töne, so hoch, dass sie nur im Himmel zu hören sind. Am wichtigsten ist aber, dass Michael uns allen hier eine Wegbe-schreibung gibt: Wir können dort wirklich hinkommen. Der Ort ist wirklich (ich vermute, er hat etwas mit vielen bunten Schmetterlingen zu tun. Ein Vogel da und dort), und es gibt den ganzen Tag Nachtisch bis kurz vor Darmverschluss. In einer Welt ohne Angst werde ich Tränen des Glücks weinen. Währenddessen hat sich der Chor schon in Ekstase gesungen. Ganz am Ende begegnen wir wieder dem kleinen Kind (Ist es ein masturbierendes Kind?), es betet mit fast versa-gender Stimme um die Heilung einer Welt, deren Krankheit es nicht diagnostiziert hat, aber Michael hat es ihm verraten: Wir haben die Krankheit, die ihren Namen nicht zu sagen wagt, aber sie kann geheilt werden, durch Liebe. C. hat das also geglaubt, schnapp-hamsteräugig betonte er, am selben Tag wie Michael geboren zu sein, was für ein Zufall, ein Glückstag für ein krankes Universum, das masturbierende Kind konnte zum Arzt der Menschen werden durch Tanz und Gesang: I’m about to, so seine Botschaft. Abgetötet werden muss alles, was dem im Weg steht, notfalls man selbst. Der Weg führt vom Mal-medyeg zum Grünen Grund, weiter zur Sentruper Höhe in Richtung Himmelfahrtsallee, Schlenker durch die Korduanenstraße und am Ende wieder hin Zum Guten Hirten. Zeit zu gehen also, ich muss los, muss weg, ich hab den Plan, eine Wegbeschreibung für das Wiedersehen. Wirklich.
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1.12 Das Mögliche schreiben - Hanna Engelmeier
List of Research and Publications: I. Publications in peer reviewed journals (National & International) 1. Praharaj, S.K. (2004) Escitalopram treatment of transvestic fetichism: A case report. German Journal of Psychiatry, 7(2), 20-21. 2. Praharaj, S.K. (2004) Koro and psychosis following steroid abuse. German Journal of Psychiatry, 7(3), 49-50. 3. Praharaj, S.K. (2004) Serotonin reu