Beziehung gestalten und sinnhaftes Leben erfahren – musiktherapeutische Anregungen zur Erhöhung und Verbesserung der Lebensqualität im Alter
Viele alten Menschen kommen erst ins Heim, wenn sie krank sind und es anders
nicht mehr anders geht oder wenn sie niemanden haben, der sie zu Hause betreuen alten dementen kann und sie die Belange ihres täglichen Lebens nicht mehr selber regeln können.
Einzelne Menschen gehen diesen Weg bewusst und freiwillig, sie sind aber die
Ausnahme. Die meisten vollziehen den Schritt ins Heim gezwungenermaßen.
Insofern ist dieser Schritt mit vielen Verlusterfahrungen verbunden.
1. Die körperliche Einschränkung umfasst u.a.:
typische Alterserkrankungen wie Alzheimer Krankheit, senile De-menz, Hirnarteriosklerose u.a.
sprachliche, motorische und sensorische Behinderungen (Beispiel: Aphasien)
größere Anfälligkeit für Krankheiten
2. Verlust der vertrauten, sicheren Umgebung; das Eigentum muss größ-
tenteils zurückgelassen werden. Unterbringung in Einzel- und Doppel-zimmern.
3. Veränderungen im sozialen Netz: Umzug in anderen Stadtteil oder Ort,
4. emotionale Verlustsituation durch Behinderung, Krankheit, Isolation,
Gedächtnislücken; unbewältigte Gefühle wie Trauer, Zorn, bis hin zum Verlust der Selbstbestimmung bei der Alltagsbewältigung und der ge-samten Lebensgestaltung. Ziel in der Gruppe ist z.B.: Selbstbestim-mung wieder fördern.
Der „Institutionalisierungseffekt“ (wenig gefordert sein, keine Aufgabe mehr ha-ben, alles gemacht bekommen) fördert oft Passivität, Desorientiertheit und De-pression. Hospitalismussymptome können auftreten.
Unter Demenz werden „in der Regel über Monate bis Jahre chronisch progredien-
te degenerative Veränderungen des Gehirns mit Verlust von früher erworbenen kognitiven Fähigkeiten“ verstanden. Damit einher gehen „zunehmende kognitive Störungen, die insbesondere Gedächtnis (v.a. Neugedächtnis), Denken, Urteilsfä-higkeit, Intelligenz und Orientierung betreffen und häufig mit Beeinträchtigungen im sozialen und beruflichen Umfeld bzw. Veränderungen in der Persönlichkeits-struktur.“ Ebenfalls können psychotische Symptome, z.B. Halluzinationen oder Wahnideen auftreten.1
Bei der Arbeit mit Menschen, die von Demenz betroffen sind müssen einige wich-tige Vorüberlegungen angestellt werden.
„welche Ziele kann Therapie mit demenzerkrankten Menschen, deren logisch-rationales Denkvermögen mehr und mehr schwindet, verfolgen?
Wo liegen ihre Bedürfnisse und Probleme?
1 Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage, S. 328
Wie können wir ihre Sprache und Signale verstehen?
Alte Menschen gehen aus dem Leben hinaus, nicht hinein. Welche Begleitung brauchen sie für den Prozess des Übergangs?
Ich sehe das Alter auch als Zeit des Reflektierens und der Rückschau über das eigene Leben.
Die Musiktherapie soll in das gesamte Therapiekonzept eingebunden werden, d.h.
therapeutisches Gespräch bzw. Begleitung mit Musik.
Dazu muss zunächst herausgefunden werden, ob ein Bewohner oder eine Bewoh-nerin über die Musik ansprechbar ist oder nicht und ob er oder sie Musik als wohl-tuend empfindet. Bei der Mehrzahl der Bewohner wird Musiktherapie über eine dritte Person angeregt. In dem Fall ist es wichtig herauszufinden, ob der/die Be-wohnerIn es wirklich wünscht.
Voraussetzung für gelingende Arbeit mit den Bewohnern ist eine vertrauensvolle,
offene, nährende Atmosphäre; es muss „ein „Ort der Ruhe, Geborgenheit und
Sicherheit“ entstehen.3 Bei Frau Ko. habe ich z.B. ein Paravent im Zimmer auf-gestellt und die die Mitarbeiter informiert, dass sie uns nicht stören sollen (s.u.). Des weiteren sind menschliche Wärme, Interesse, Einfühlung zu vermitteln durch Hinwendung, ungeteilte Aufmerksakeit und Zuwendung. Demenzerkrankte benötigen unbedingt das Gefühl, in ihrem Sosein angenommen zu sein und in ihrer Welt verstanden zu sein. Dazu bedarf es besonderer Aufmerksamkeit, Sensibilität und einer horchenden Haltung. Unter Umständen muss ich meinen Standpunkt „Ich bin richtig, der verwirrte Mensch ist falsch“4 verlassen. Vom verwirrten und psychisch kranken Menschen können wir vieles lernen, was in unserer Gesellschaft verloren ging, z.B. die Kostbarkeit des Augenblicks. „Reagiert sie überhaupt?“ wurde ich mehrmals gefragt. Wenn jemand nicht spre-chen kann besteht die Gefahr, über ihn hinwegzureden. In der Einzelmusiktherapie habe ich es überwiegend mit bettlägerigen Bewohnern zu tun (müssen gelagert werden, keine Kontrolle mehr über Ausscheidungen, Es-sen wird eingegeben oder Ernährung über Sondenkost, oftmals Verlust der Spra-
che); das bedeutet ein Angewiesensein auf Hilfe bei allen Verrichtungen des täg-
„Wie geht es dem Bewohner? Was braucht er im Moment?“5
Fühlt er sich schwach, elend, traurig; hilft ihm vielleicht ein tröstendes Lied
Wünschen der Be-wohner orientieren
2 Margarete Schnaufer, Integrative Musiktherapie mit Demenz-Erkrankten, Vortrag vom 11. Au-gust 1993 in der Alzheimer-Initiative Stuttgart, S. 1 3 ebd. S. 3
4 ebd. 5 Margarete Schnaufer, Integrative Musiktherapie auf der Palliativstation, Vortrag auf der Mitglie-derversammlung des Fördervereins, Januar 1996, S. 2
Hat er Angst; hilft ihm eventuell ein monochrom fließender Klang, ein sich Einschwingen auf ein gemeinsames, ruhiges Atmen.
Geht es ihm gut? Möchte er einfach seiner Lebensfreude im gemeinsamen Singen und Musizieren Ausdruck verleihen?
„Im musikalischen Dialog ist Angenommensein und Verstandenwerden ohne Worte erlebbar. Im Spiel kann Bedrohliches und Ängstliches (z.B. Angst vor Ster-ben und Tod) ausgedrückt werden, ohne die Gefahr, davon überschwemmt zu werden. Noch Diffuses wird immer klarer fassbar.“6 Über das Spiel kann geredet werden. Dies schafft Distanz und einen besseren Umgang mit den eigenen oft unverstandenen Gefühlen. Hier kann Erleichterung und Entspannung eintreten. In jedem Fall orientiert sich Musiktherapie an den jeweils erkennbaren psychosozia-len Bedürfnissen.
worauf reagiert der Bewohner, die Bewohnerin?
Lebenskonzept des Bewohners erkunden (Biografiearbeit, Gespräche mit Per-sonal und Angehörigen, Informationen sammeln).
Ich halte mich auch an folgende Fragen aus der integrativen Therapie:
1. was ist gesund und sollte erhalten werden? 2. was ist wenig entwickelt und sollte gefördert werden? (Ressourcen
3. was fehlt und kann ersetzt werden? 4. was ist unwiederbringlich verloren und muss betrauert werden?
Letzteres ist das Thema, das in der Altenpflege oft am meisten Gewicht hat. Wenn Verluste wahrgenommen und betrauert werden, ist wieder Raum für neues Erle-ben und neue Weite, evtl. auch für Ressourcen, die noch da sind. Oder jemand kann dann endgültig Abschied nehmen und loslassen. Der Bewohner gibt die Richtung an, es geht um seine Wünsche, sein Wohlbefin-den, seine Bedürfnisse.
Wenn Anknüpfungspunkte für eine Begegnung gefunden sind, geht es darum, 3) Emotionale „Emotionen bei mir und anderen“ wahrzunehmen, sie zu „achten, ihnen vertrau- Begleitung und en, ihnen Raum und Ausdruck“ zu geben.7
Nähren in der Therapie bedeutet, Zuwendungsdefizite und Sehnsucht nach Zuge-hörigkeit zumindest kurzzeitig zu stillen, sich selbst und anderen Menschen be-gegnen und sich selbst dabei als Teil eines Ganzen zu empfinden. Im Augenblick anwesend und lebendig sein.
Manche Bewohner lassen ihrem Unmut und ihrer Verzweiflung freien Lauf durch stundenlanges lautes Schreien oder andere stereotype stimmliche Äußerungen. Immer dieselben Rufe und Worte. Tiefe Erschöpfung und angestrengte Schrei-phasen wechseln sich ab. Medikamente helfen in vielen Fällen nur bedingt. Sie können bei manchen Bewohnern zu einer zeitweiligen Entkrampfung verhelfen.
6 ebd. S. 5 7 Margarete Schnaufer, Brücke zum eigenen Wesen, Altenpflege 6/94, S. 369
Einen Bewohner ganz ruhig zu stellen würde auch bedeuten, ihn in ein rein vege-tatives Stadium zu versetzen. Dem stehen ethische Fragen entgegen. Wie kann Musiktherapie hier ansetzen? -
die Gefühle des Bewohners aufnehmen und auf einem Instrument ausdrücken
die Melodie des Rufens oder Schreiens aufnehmen und begleiten und so ver-suchen, darüber in einen Dialog zu kommen
mit Klängen ablenken, Neugierde wecken, aus dem Weggetretensein heraus-locken
Blickkontakt suchen und ein Beziehungsangebot machen und damit ein rei-cheres Erleben der Umwelt ermöglichen.
Da die Bewohner nicht mehr in die Welt hinausgehen und dort sich selber Impul-se holen können, Inspirationen und Ideen holen können, müssen wir ihnen vielfäl-tige Anregungen geben:
Impulse in Form von Liedern (Volkslieder, Schlager, Lieder aus dem Jahres-
kreis, kirchliches Liedgut, usw.), Sprache, Rhythmen, Klänge sowie
Impulse in Form von Informationen über Jahreszeit, Wetter, Tagesablauf, Weltgeschehen, usw.
Was dann vom Bewohner zurückkommt, kann als Basis für die Kommunikation dienen, das wir aufgreifen und unterstützen können.
Unsere Stimme ist Musik: Klang, Rhythmus und Melodie. Gesang kann dort ein-
gesetzt werden, wo Sprechen das Gegenüber nicht mehr erreicht. Mit der Musik
meiner Stimme kann ich mich dem Tempo des alten Menschen anpassen („Ver-langsamung bringt Wahrnehmungsgewinn“, sagte Karl-Heinz Wortmann in einer Supervisionssitzung). Eine Melodie mehrmals singen, ohne Text, mit Vor- und Nachspiel, um der Erinnerung Zeit zu lassen, ein Gefühl ausleben zu können und den Augenblick auszukosten.
„Durch ständige Wiederholung von Silben oder Wörtern mit Basisvokalen, eben durch das Sprechen eines Mantras, beginnen die enthaltenen Vokale in die Tiefe zu schwingen, sie wirken nach innen. Worte sind innerer Klang und durch ihre Wiederholung so etwas wie eine innere Massage. Jeder Vokal hat seinen bevor-zugten Schwingungsraum. Durch ihre verschiedenen Resonanzcharaktere brin-gen sie die entsprechenden Körperteile zum Schwingen und ergänzen sich so, dass die fünf Vokale zusammen mit dem Atem den ganzen menschlichen Körper, also mit dem Atem der Gefühle, versorgen können. Darin liegt die Heilwirkung der Vokale.“8
Am Atemfluss ist der Gefühlszustand eines Bewohners rasch erkennbar. Möglich-
bewusstes Ein- und Ausatmen mit dem Bewohner; erfahrungsgemäß liegt die
Betonung dabei auf Ausatmen, Ablassen, Loslassen;
eine ruhige Melodie dem Atemrhythmus anpassen oder lange Töne summen, dabei Empfindung, Schwingung, Gefühle aufnehmen.
„Atemstörungen sind meistens psychosomatisch mit Behinderungen der persönli-chen Fähigkeit verknüpft, zuzulassen, loszulassen und sein zu lassen. Wer bei-spielsweise Gefühle wie Angst oder Schmerz nicht zulassen gelernt hat, oder wer Macht und Besitz nicht loslassen kann, oder wer sich selbst keinen Moment in
8 Fritz Hegi, Improvisation und Musiktherapie, Paderborn 1997, S.84
Ruhe lassen kann, der verspannt oder verpanzert seinen Körper als Schutz vor befürchteten Störungen der Gefühle. Der Atem muss sich dann buchstäblich durch Hindernisse hindurchzwängen.“9
Der Körper wird oft als „Quelle des Schmerzes empfunden. In ihm wohnen wir,
nehmen wir uns und andere wahr.“10 Wir entdecken die Welt mit unseren Sinnen.
Trauer, Depression, sich nicht äußern können, Isolation und Ausgeliefertsein,
Verzweiflung, Frustration über Verluste, Verbitterung und Selbstablehnung führen oft zu Verkrampfung und Verspannung. Musiktherapie kann hier Mittel zur Lin-derung sein, sie kann zum Abbau von Spannungen beitragen.
Haltung vieler bettlägeriger Bewohner: Arme über der Brust verschränkt, Hände oft eingedreht und fest angepresst, Finger zur Faust geschlossen. Bei Bewohnern, die ich auch in der Pflege betreue, setze ich basale Streichung als zusätzliches Mittel ein, damit sie den Körper wieder spüren und eine angenehme Empfindung des Körpers zu erleben. Da ich mit dem Klientel der Altenpflege durch jahrelange Arbeit in der Pflege bestens vertraut bin, habe ich optimale Voraussetzungen, hier mit Musiktherapie einen wesentlichen Beitrag zum ganzheitlichen Erleben der Betroffenen zu leisten.
Folgendes kann man durch Musiktherapie bei alten und demenzkranken Men- Ziele von Musik-schen erreichen:
Isolation und Vereinsamung entgegenwirken
noch vorhandene körperliche und geistige Fähigkeiten stärken
ungenutzte Potentiale aufspüren und fördern
den Augenblick erleben können, im Augenblick da sein
Sinn suchen für das eigene Leben und Sterben
die Fähigkeit unterstützen und fördern, auf die Alltagswirklichkeit angemes-sen zu reagieren und sie zu gestalten, Konflikte angehen (z.B. Thema in der Gruppe: ein neuer Bewohner, der in alle Zimmer geht. Wie gehe ich damit um? Wie kann ich mich schützen?).
Ausdruck finden für Gefühle; nicht nur für schöne, „sondern auch für ‚schwarze’ wie Verzweiflung, Wut, Angst, Ohnmacht, Bitterkeit“11(11); Ge-fühle nach außen ablassen, nicht nach innen lenken, d.h. Spannung nach au-ßen ablassen = den emotionalen Zugang zu sich selbst finden
Raum geben für inneres Erleben, innere Massage
sich als soziale Wesen erfahren, in Teilnahme und Mitteilen
durch vertraute Lieder Erinnerungen an frühere Gemeinschaftserlebnisse we-cken; in der jetzigen Situation die Atmosphäre von damals erleben und zur ei-genen Kraft zurückfinden; der „Schatz der Erinnerungen“ kann eine Brücke bilden zum eigenen Wesen
die Möglichkeit, lebensgeschichtlich aufzuarbeiten: Verlustsituationen und Verlustgefühle bewältigen
9 ebd. S. 86 10 Margarete Schnaufer, Integrative Musiktherapie mit Demenz-Erkrankten, Vortrag vom 11. Au-gust 1993 in der Alzheimer-Initiative Stuttgart, S. 3 11 ebd. s. 4
Mittel zur Linderung bei Schwerstkranken durch Entspannung und Loslassen; (z.B. Rückmeldung eines Pflegers: was hast du mit Fr. R. gemacht? Sie sieht ja total entspannt aus. Der ganze Gesichtsausdruck ist verändert.).
Erweiterung der Möglichkeit des Kommunizierens über die Sprache hinaus-gehend im musikalischen Spiel oder Liedern; nonverbale Kommunikation (s.u. Bericht von Fr. Ko.: „Kommunikation in Summen und Brummen“; Hr. H.: „Trommel – ja – Kommunikation“).
Gesundheit hat mit einer umfassenden Lebenskompetenz zu tun. Musiktherapie kann helfen, Vertrauen zu den eigenen Fähigkeiten wiederzuerlangen und sich seiner Identität zu vergewissern. Insofern dient Musiktherapie zur Verbesserung, Erweiterung und Erhöhung der Lebensqualität.
Mein wichtigster therapeutischer Grundsatz: „Einen Fluss kann man nicht schieben“ und „go with the flow“, d. h. geh mit dem Fluss. Das bedeutet: der Bewohner bestimmt Richtung, Inhalt Tempo und Ziel. Ich gestalte das „Setting“, sorge für einen geschützten Rahmen und eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der er sich öffnen, ausleben und entfalten kann. Ich habe kein fertiges Therapieprogramm, das ich durchziehe, sondern mache Angebote zur Begegnung, zum Kommu-
Über die Biografie von Frau R. war mir u. a. bekannt, dass sie gerne Romane gelesen hat, sich
Fallbeispiele
früher viel alleine beschäftigte, zurückhaltend war, aber gute Kontakte gepflegt hat, und gerne an
Veranstaltungen teilnahm. Eine deutliche Aussprache ist nötig, wenn man sich mit ihr verständigen
In den ersten Stunden antwortete Frau R. nur wenig und sprach kaum von sich aus. Sie war jedes Mal einverstanden, dass ich singe. In der Schule habe sie keine Lieder gelernt, sie habe auch kei-nen Liedwunsch (das ist bis jetzt so), und sie habe nie selber gesungen, aber viel Radio gehört. (Information der Tochter) Ich singe viele verschiedene Volkslieder, jedes Mal mit Vor- und Nach-spiel und manchmal ohne Text, die Melodie gesummt. Sie wünscht sich vor allem fröhliche und lustige Lieder. Nach kurzer Zeit bedankt sie sich am Schluss fürs Singen. Einmal sagt sie spontan: „Das war wunderschön.“
Neben dem Singen her „kaut“ sie, räuspert sich, seufzt, hustet und verschluckt sich, nestelt viel im Bett oder liegt auch mal ganz entspannt. Während des Singens schaut sie meist „in die Ferne“ und scheint eher abwesend zu sein. Wenn ich sie anspreche, schaut sie mich an. Sie lebt in ihrer eige-nen Welt, von der ich nur wenig ahnen kann. Sie schafft sich in Gedanken ihre Welt, so wie sie es braucht. Ihre Tochter und ihr verstorbener Mann „sind bei ihr“, wenn auch nicht real, und sie ist zufrieden. Probleme hat sie keine. Ich respektiere das so und dringe nicht durch allzu viele Fragen in sie ein. Was für mich zählt, ist das Gefühl von Geborgenheit und Annahme im Kreise vertrauter, wenn auch imaginärer Menschen. An mir ist es, diese Zufriedenheit und Vertautheit durch Lieder zu unterstützen – ihrer Vorstellung praktisch eine Atmosphäre durch Musik zu geben, ihrem inne-ren Erleben Raum zu geben. Durch Lieder aus dem Jahreskreis wird eine Verbindung zwischen Innen- und Außenwelt hergestellt. Wenn Frau R. jetzt die Gitarre sieht, kommt ein Strahlen in ihre Augen. Selbst, als es ihr wirklich elend geht, wünscht sie sich fröhliche Lieder. Humor und Lebens-freude sind ihre Kraftquellen.
Mit der Zeit wird eine Unterhaltung in ein paar Sätzen möglich. Sie lässt Berührung zu, sie ist „gesprächiger“ und lächelt viel. Anfängliche Distanz und Vorsicht weichen der Vertrautheit. Ein-mal singe ich ihr im Wohnzimmer, wohin sie jetzt ab und zu rausgesetzt wird. Direkten Blickkon-takt meidet sie immer noch. Sie schließt gerne die Augen beim Singen und genießt.
Pflegeprobleme: Verkrampfung und Verspannung, presst den Mund zu beim Essen.
Situation im Doppelzimmer: Frau J., (mobil, kann reden) versuchte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zuerst versuchte ich den Mittelweg, beide Bewohnerinnen anzusprechen. Dabei erreich-te ich aber Frau Ko. Nicht mehr. Sie zog sich wieder zurück. Von da an stellte ich einen Paravent
als Schutz für Frau Ko. Auf. Mit Frau J. habe ich die Situation besprochen und widme ihr extra ein paar Minuten für ein Gespräch. Meine Aufgabe als Musiktherapeutin ist es, für eine ungestörte Atmosphäre zu sorgen, einen Schutzraum zu bieten, in dem sich eine vertrauensvolle Beziehung entwickeln kann. Frau Ko. Konnte aufgrund ihrer Immobilität und Pflegebedürftigkeit ihren Privatbereich nicht mehr selber abgrenzen. Auch ein Schild an der Tür soll für eine störungsfreie Zeit sorgen.
Das erste Kennenlernen mit Frau Ko. War kurz und prägnant: Während meiner Begrüßungsworte machte sie einfach die Augen zu. Ich akzeptierte es als: „Ich will jetzt nicht, mir ist das zu nah, ich kenne Sie nicht.“ Weitere Eindrücke waren: Sie war aufmerksam und neugierig, hörte zu und be-hielt den Blickkontakt. Sie machte oft Kaubewegungen und brummte. Ich hörte Schluchzen – Weinen ohne Tränen. Sie reagierte auf bestimmte Worte der Lieder wie „Abschied“, „letzter Gruß“, „Sterben“, „Grab“, „Hochzeit“ oder „fließt der Bach“. Sterben oder Abschied war oft ein Thema für sie. Sie seufzte viel und gähnte oft – ein Zeichen von Lockerung und Entspannung. Oft begann Frau Ko. Schon zu weinen, wenn sie meine Stimme hörte. Ihr Weinen drückte sie in sto-ckendem Brummen aus. Das Brummen hatte verschiedene Qualitäten, später hatte es einen wohli-gen Charakter. Auf Frau Ko.s Brummen reagierte ich mit Summen. So entstand eine Kommunikation im Summen und Brummen. Ich passte mich mit meiner Stimme ihrem Tempo und Atemrhythmus an. Sie bekam schnell Atemnot, wenn sie sich aufregte oder etwas gegen ihren Willen mit ihr gemacht wurde. Das sich Annähern und gemeinsame Einschwingen im Summen und Brummen sowie viele tiefe Seufzer halfen dabei, Spannung abzulassen. Die Gitarre war in solchen Augenblicken beiseite gestellt. Ich empfand sie als hinderlich. Frau Ko. Suchte Blickkontakt und ohne Gitarre konnte ich näher heran-rücken. Sie ließ es zu, dass ich dabei auch ihre Hände hielt. Allerdings habe ich mich vorher ver-gewissert, ob sie das möchte. Ich war einmal zu schnell, und sie reagierte sofort mit Kurzatmigkeit und bebenden Händen. Ich entschuldigte mich für mein übergreifendes Verhalten und ermutigte sie, mir zu zeigen, was sie nicht wollte. „Es findet hier nichts statt, was Sie nicht wollen.“ Von da an kündigte ich alles an, was ich tat. Das war ein wichtiger Punkt unseres Annäherns. Es erfordert eine horchende, abwartende Haltung vom Therapeuten.
Nachdem die Trauerphase bei Frau Ko. Weitgehend vorbei war, tauchten während unserer Stunden Gefühle wie Lebensfreude, Humor und Neugierde auf. Das Brummen hatte dann einen anderen Charakter, es drückte Wohlbefinden aus.
Durch einen epileptischen Anfall erlitt Frau Ko. Einen Rückfall. Sie konnte zeitweise nicht mehr brummen, und ihre Augen wanderten orientierungslos hin und her. Sie hat sich wieder erholt.
Die gemeinsamen Stunden kann ich umschreiben mit Dasein, Verstehen, Wärme, Kommunikation, Fallenlassen, sich anvertrauen, keine Angst mehr haben, traurig sein, Lebensfreude spüren. Außer Volksliedern, die mir zum Einstieg dienten, sang ich auch viele einstrophige Lieder. Wie „The river is flowing“, „Ubi caritas“ (aus Taizé) oder„Magnificat“ (Kanon).
Einmal hörte ich hinterher vom Flur aus, wie sich eine Schwester, die Abendessen reichte, freute, dass Frau Ko. Mit Appetit aß.
Unsere letzte Stunde: Als ich im Zimmer ein paar Worte mit Frau J. wechselte, begann Frau Ko. Zu brummen. Es klang für mich wie ein Rufen. Wir kommunizierten in unserer üblichen Weise. Ich spürte wieder ihren Witz und ihre Lebensfreude. Am Schluss sagte ich zu ihr: „Ich könnt’ sie grad knuddeln“, und tat es auch. Dass sie das zugelassen und offensichtlich genossen hat, war ein schö-ner Abschluss. Sie verstarb wenige Tage später.
Diagnosen: senile Demenz, Alzheimertyp; latente Herzinsuffizienz; phasenweise Desorientierung
mit Unruhe. Weitere Informationen: Wortfindungs- und Satzbauschwierigkeiten, bringt Themen durcheinander, hatte Interesse an allem, was mit Auto, Motorrad und Motor zu tun hatte, er hatte über die Jahre viele Autotypen gefahren. Zuletzt war er sehr einsam, mied Feiern, Kontakte; fühlt sich nicht wohl bei Veranstaltungen. Er hat früher nie gesungen; er schaut viel fern; er spricht gut auf Frauen an. Er schreit oft den ganzen Tag „ja, ha ha“, vor allem gegen Abend. Auch seine Tochter erreicht ihn im Schreien nicht.
Erste Erfahrungen: Herr H. reagiert nicht auf mich, wenn er ganz im Schreien ist. Singen – womit
ich in der Regel anfing - mag er nicht hören. Er ist kurzzeitig aufmerksam bei Klopfgeräuschen auf der Gitarre oder Trommel erzeuge oder seine Töne nachahme oder auf der Gitarre spiele.
Bei den nächsten Behandlungen ist Herr H. ruhig, sitzt oder liegt und schläft oder schaut teilnahmslos an die Decke: massierende, leichte Berührung, leise gesummte Töne, fließender Trommelrhythmus, tiefe Saitenklänge der Gitarre empfindet er als wohltuend: er lehnt sich zurück, seufzt, entspannt, öffnet die Augen, um zu sehen, wer da ist; gibt seine Zustimmung zum Weiter-machen. Am Ende lächelt er, was nicht oft vorkommt, und atmet ruhig. Beim Singen von Obertö-nen lacht er kurz und schaut wieder, wer da ist, schließt die Augen und genießt.
In der 6. Stunde beginnt er mit „ja, ha, ha“ als ich mich verabschiede. Auch wenn er schreit versu-che ich, zumindest Kontakt zu ihm zu bekommen. Eine Art und Weise ist das „Kommunikations-trommeln“; er ist dann eine kurze Zeit still und lauscht, wie ich trommle und wenn er seine „ja“ – Töne sagt bin ich still. Als ich ihn das Fell der Trommel spüren lasse sehe ich Angst in seinen Augen. Seine Hand war locker gewesen. Er kommt dann von sich aus zurück auf unsere vertraute „Trommeln – Ja“ Kommunikation, die ihm in der Situation offensichtlich Sicherheit gibt.
9. Stunde: Information des Pflegers, Herr H. habe seit Tagen Fieber, sei schwach, könne nicht mehr schreien. Mein Eindruck: Herr H. liegt im Sterben. Er atmet schwer, sein Herz klopft stark, sein Blick ist starr zur Decke gerichtet. Ich berühre ihn an der Schulter, summe, singe Töne auf „ja“. Sein Blick richtet sich ab und zu kurz auf mich. Ich benenne das Thema Sterben, spüre seine Anstrengung, sein Ringen. Gerade als ich draußen bin kommt seine Tochter. Einen Tag später verstirbt Herr H. Hier war in ganz eingeschränktem Maße eine Kommunikation möglich.
Biografie (von ihr selber geschrieben): sie hatte fünf Geschwister. Volksschule acht Klassen.
Buchhalterkurse, Angestellte. Geb. in irgendwo an der Wolga. Geheiratet und wohnhaft in der Ukraine. Sie hatte einen Sohn und war zu dieser Zeit Hausfrau. Ihr Mann arbeitete als Leiter eines Kaufhauses. ’41 Krieg und Besatzung, ’44 evakuiert nach Polen. Einberufung des Mannes in die Wehrmacht. Jan. ’45 Flucht aus Polen nach Deutschland. Vom russischen Militär eingeholt und zurückgestellt nach Russland, Kasachstan. (Ergänzung der Biografie von einer nahen Verwandten, die Frau F. regelmäßig besucht und Kontakt zu ihrer noch lebenden Schwester in Russland hält): sie hatte den Zug nicht mehr erreicht, er war überfüllt. Das Kind starb bei der Rückkehr nach Russ-land. Sie kam in einem Transportwagen zurück; hat mit anderen Müttern und Kindern in einer Scheune gehaust, kalte Jahreszeit, fast alle Kinder sind dort gestorben (Lungenentzündung). Ihr Mann heiratete in Deutschland wieder, sie hatten später Briefkontakt. Fr. F. blieb ledig trotz vieler Angebote. Hier wieder eigene Erzählung: In Kasachstan in einem Betrieb als Angestellte gearbei-tet. Kam durch Denunziation als politische Gefangene ins Gefängnis nach Sibirien (Fr. F. hatte sich mehrmals geweigert, mit dem russischen Geheimdienst zusammen zu arbeiten). Nach 8 Jahren vorzeitig entlassen. Zunächst verschiedene Arbeiten, dann wieder als Angestellte. Streit mit ner-venkranker Mutter. Hat seit den 60er Jahren mit Krankheit zu tun. ’80 Ausreise in die BRD. „Mei-nen Mann sah ich nie wieder“. Er starb ’78 in Westdeutschland. Seit April ’91 ist sie in unserem Altenpflegeheim. Frühere Interessen: gerne gewebt, gelesen, Musik gehört.
Diagnosen: Altersdiabetes (Unterzucker), Morbus Parkinson, zeitweise wahnhafte Psychose (Ver-folgungswahn), Oberschenkelfraktur ’93 Apoplex mit Schlucklähmung und Aphasie 1/98. Vorgeschichte im Heim: Fr. F. musste nach dem Schlaganfall im Rollstuhl fixiert werden, da sie keine Einsicht zeigte, nicht mehr gehen zu können. Zeitweise hatte sie einen Katheter. Sie war früher immer darauf bedacht gewesen, dass alle ihre Kleider und Sachen beieinander sind. Mehr-mals am Tag schaute sie ihren Kleiderschrank durch. Sie hatte mehrere Pelzmäntel. Im Heim fühlte sie sich wohl. ihr gefiel das schöne Haus.
In der letzten Zeit musste Fr. F. oft abgesaugt werden. Sie hat massive Atemprobleme. Phasenwei-se wird sie blau um den Mund, wenn sie nach Luft ringt. Nach dem Ringen folgt in der Regel laut-starkes, langgezogenes Stöhnen auf „a“. Pflegeprobleme: zunehmende Verkrampfung, Obstipation, Atemprobleme – drohende Erstickung
Meine Ziele in der Musiktherapie: Entspannung ermöglichen, Atem normalisieren. Meine Interventionen: auf gemeinsamen Atem einschwingen, Lieder in ihrem Atemrhythmus sin-
gen, dabei vorsichtige Bewegungen mit ihren Händen und Armen, um den Brustraum zu weiten, der durch ihre verkrampfte Haltung stark eingeengt ist. Eine Vertrauensbasis bestand durch meine jahrelange Betreuung von Fr. F. in der Pflege. Andere Mittel zum Lösen und Entspannen sind der Einsatz von verschiedenen Instrumenten: Kalimba, Regenmacher, Ziegenhufrassel, Klangschale, Glockenspiel, Stimme und Obertöne. Leider habe ich in diesem Haus kein Monocord zur Verfü-gung. Fr. F. lässt sich ein auf meine Anregungen. Sie macht eigene Stimmlaute, auch wenn sie alleine ist oder weiß, dass ich im Raum bin (lebt im Doppelzimmer). Sie nimmt mit diesen Lauten Kontakt auf. In meiner Nachtwachenzeit höre ich auch, wie sie mit der anderen sprechunfähigen Dame im Zimmer kommuniziert. Auch beobachte ich, sowie andere Kollegen, dass Fr. F. ihre Arme alleine öffnet und hebt. Sie hebt ihre Arme auch zur Begrüßung. Gerne lauscht sie meiner Stimme, wenn ich vom Tagesgeschehen draußen erzähle, vom Wetter, ihren Kleidern, von der Landschaft, wie sie wohl in ihrer Heimat gewesen ist, vom Essen. - Sie hat früher gerne und gut gegessen, jetzt wird sie über Sondenkost ernährt; einmal singe ich im Herbst das Lied „Bunt sind schon die Wälder“; bei der Strophe: „wie die volle Traube .“ beginnt Fr. F. genüsslich zu schmatzen.
In der Supervision wird das Hauptproblem von Fr. F. besprochen: das nicht Loslassen, bzw. das Festhalten (als Hypothese formuliert). Das Festhalten zeigt sich in ihrer verkrampften Haltung, auch die Obstipation ist ein Zeichen dafür. Ein Zitat von Fritz Hegi (s.o.) zum Thema Atemstörun-gen unterstützt die Hypothese des Festhaltens. Folgende Überlegungen werden wichtig: Fr. F. geht nicht ins Leben hinein sondern hinaus. Sie
schließt es ab. Was kann ihr das Abschließen erleichtern? Was hilft ihr in der Krisenzeit des Über-gangs? Was ist ihr Prozess? Welche Selbstheilungskräfte hat sie evtl. noch? In einer Stunde kann ich Fr. F. den Schellenring in ihre verkrampfte Hand geben. Die Schellen klingeln bei ihren Bewegungen (Parkinson bedingtes Zittern) und sie strahlt. Als die Stunde um ist, ist deutliche Enttäuschung auf ihrem Gesicht zu lesen, dass ich die Schellen wieder mitnehme. In den letzten Wochen ist Fr. F. etwas ruhiger geworden. Evtl. hatte sie noch mal einen kleinen Insult. Sie erscheint gelöster und nicht mehr so verkrampft. Beim Singen öffnet sie die Augen nach oben, als suche sie etwas bzw. als höre sie „Klänge aus einer anderen Welt.“ (Ich sang eine freie Melodie auf „a“) Ich weiß, dass Fr. F. immer an ihrem Leben festgehalten hat, nie ans Sterben denken wollte, doch jetzt scheint mir der Zeitpunkt gekommen, dieses Thema einzubringen. Ich spreche von der möglichen Sehnsucht der Seele nach Weite, evtl. nach einem anderen Raum, wo sie diese Weite erleben kann. Vielleicht wird es der Seele im Körper zu eng und sie denkt daran, ihn zu verlassen. Ich formuliere ganz vorsichtig, um nicht zu ängstigen, sondern um einen neuen Raum zu eröffnen, den Gedanken ans Sterben zuzulassen. Fr. F. zeigt keine Anzeichen von Angst. Ihr Atem bleibt ruhig. Sie sucht den intensiven Blickkontakt zu mir. Ihr Blick ist eher fragend, neugierig. So endet unsere Stunde und so enden viele Stunden. Rückmeldung einer Schwester: Frau F. war nach dem letzten Mal entspannter als sonst, sie ließ sich leichter lagern und bewegte selber ihre Arme mit. Die Therapie mit Fr. F fand im Rahmen meiner Anstellung meiner hauptberuflichen Pflegetätigkeit statt, und so konnte ich Fr. F. in der Weise bis zu ihrem Tod begleiten.
Diagnosen: Zustand nach Wirbelsäulenentzündung und Meningitis, Hemiparese links, Cerebrale
Insuffizienz. Fr. M. ist zeitweise desorientiert, zeitweise gut ansprechbar und könne sich gut unterhalten. Sie hat zeitweise optische und akustische Halluzinationen. Sie ist bettlägerig, erbricht immer wieder und mag nicht essen. Vorfall unlängst: ihre Zunge fiel nach hinten, als sie auf dem Rücken lag; bis es jemand bemerkte war sie schon blau. Biografie: Fr. M. hatte drei Geschwister, sie war die Älteste. Eine Schwester lebt noch, ein Bruder starb früh an Herzversagen, ein weiterer Bruder, das Lieblingskind, fiel im Krieg. Mit 15 Jahren zog sie zur Oma und arbeitete als Mägdefrau im Haushalt. Sie besuchte die Hauswirtschaftsschule und machte den Abschluss. Fr. M. ist geschieden. Evangelisch. Ihre Hobbys: Tanzen, Yoga, Kartenspiele (Skat, Canasta).
Bis Silvester 2000 hatte sie keine Probleme und keine Beschwerden. Zur am Ort lebenden Tochter besteht ein inniges Verhältnis. Von dieser Tochter erhielt ich einige Informationen zur Vorge-schichte vor dem Einzug ins Heim: Fr. M. ist kerngesund ins Jahr 2000 getanzt und danach mit dem Auto zurück nach Norddeutschland gefahren, wo sie lebte. Am nächsten Tag hatte sie Ausset-zer mit der Stimme und Gedanken, wollte nicht ins Krankenhaus. Der Blutdruck war zu hoch, sodass sie drei Tage später doch eingewiesen wurde. Sie bekam Infusionen, der rote Streifen, der sich am Arm bildete wurde nicht ernstgenommen, es folgte hohes Fieber, jetzt wurde die Infusion
entfernt. Fr. M. klagte über Rückenschmerzen, „das sei so wenn man so lange liegt“, war die Ant-wort im Krankenhaus. 5 Tage lang hielt sie die Schmerzen aus, fiel einmal deswegen aus dem Bett, bis eine Rückenwirbelentzündung diagnostiziert wurde. Fr. M. hat daraufhin sieben Wochen gele-gen, wurde jetzt schonend behandelt. Sie lernte wieder laufen. Beim Laufen üben ist sie zusam-mengebrochen. Es war kein Schlaganfall, vermutlich Meningitis infolge der Rückenwirbelentzün-dung. Vier Wochen lag Fr. M. im Koma. Als sie wieder erwachte, wurde sie in die Rehabilitation überführt. Sie hatte dort klare Momente und hat dann alles verweigert. Alpträume, sie würde ver-brannt werden, plagten sie dort. (Fr. M. wollte sich verbrennen lassen). Ihre Tochter versicherte ihr drei Tage lang, das könne noch anders entschieden werden. Nun hörten die Alpträume auf. Fr. M. hatte auch Angst vor dem Pflegepersonal, das nicht mit den Patienten sprach. Sie wusste nie was als nächstes gemacht wurde. Als ein Platz im Pflegestift frei wurde, zog sie um. Am ersten Tag war alles wunderbar, dann ging es bergab. Fr. M. hatte ein Einzelzimmer – sie war nie alleine gewesen, immer in Gesellschaft.
Unsere ersten Begegnungen dienen dem kennen Lernen und vertraut Werden, was nicht lange dauerte. Ich bringe immer meine Gitarre mit, versuche herauszufinden, welche Lieder sie kennt und mag. Eine Unterhaltung kommt nicht recht zustande. Fr. M. antwortet nicht, oder ich verstehe sie nicht. Sie redet sehr leise. Meist hat sie, auf der Seite liegend, den Arm auf den Kopf gelegt und den Kopf in Richtung Brust gesenkt. Ihre Hände bewegen sich beim Singen über die Bettdecke, sie seufzt immer wieder, atmet tief durch. In der dritten Stunde erkennt sie mich, gibt mir die Hand, wir wechseln ein paar Sätze. Sie hat früher viel gesungen und kennt und mag die Lieder, die ich bis dahin ausgesucht hatte. Ich biete ihr an, auch andere Instrumente mitzubringen Sie ist interessiert. Selber spielen möchte sie nicht. Die Unterhaltungen sind mühsam. Ich erfrage alles und verstehe oft die Antworten nicht: leises Reden, Flüstern.
Besonders gerne hört sie die Monocordklänge und das Metallophon, beim Trommeln und bei den Rasseln hebt sie abwehrend die Hand. Sie zeigt mir auch mit den Augen an, welches Instrument sie hören möchte. Beim Spiel beobachte ich unruhige Bewegungen, auch der Beine und ihre Augen röten sich, es kullern ein paar Tränen. Sie seufzt oft. Ich benenne, was ich wahrnehme, spreche verschiedene Themen, die unter anderem in den Liedern auftauchen, allgemein an. Z. B. in dem Lied „Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute, klinge kleines Frühlingslied, kling hinaus ins Weite“: in Gedanken die Weite erleben, die Weite des Meeres – Fr. M. lebte am Meer - , sich Erinnerungen holen, die einem gut tun. In den Liedern findet sie sich wieder und nützt die Zeit, um ihre Gedanken zu sortieren, wie sie selber sagt. Am Ende der Stunden äußert sie Dankbarkeit, Erleichterung, und dass sie sich entspannt fühlt. Als unser Abendlied kristallisiert sich heraus: „Guter Mond du gehst so stille“.
Im Herbst ist Fr. M. oft müde, sie schläft viel; das Personal sagt, sie redet nicht mehr, ob sie denn bei mir noch was mitkriegt. Ich spüre nach wie vor ihre traurige Stimmung und begleite sie mit dem Monocord oder dem Metallophon, bis sie mir mit den Augen bedeutet, sie wolle die Gitarre hören. Unsere Begegnungen verlaufen weiter so mit wenigen Worten, aber vertraut und ruhig, mit Klängen, auch mal Obertönen und Liedern. Wenn sie schläft behalte ich das Vertraute bei. Ich benenne auch, was ich wahrnehme.
Information vom Personal: Fr. M. erbricht alles Essen, sie kann nichts mehr bei sich behalten. Anfang Dez. ist wieder ein kurzes Gespräch möglich. Ich verstehe „Kampf, jeden Tag Kampf“. Sie spielt heute selber ein paar Töne auf dem Metallophon, gibt aber schnell auf, sie ist zu schwach. Ich spiele mit ihr zusammen, auch ein paar Töne im Walzertakt, denn ein anderes Thema zu Be-ginn der Stunde war „tanzen“ gewesen und ich möchte ihr helfen, die Anbindung vom Verlust weg zu einer schönen Erinnerung in ihrem Leben zu bekommen. In der folgenden Stunde ist ihr Allge-meinzustand besser. Sie verweigert nach wie vor das Essen.
Fr. M. kann in ein Doppelzimmer umziehen und bekommt einen angepassten Rollstuhl. Sie wird täglich für ein paar Stunden rausgesetzt. Diese Veränderungen bewirken ein Aufleben, sie isst und trinkt etwas und fühlt sich allgemein besser. Auch in der Musiktherapie ist wieder ein Gespräch möglich. Fr. M. sagt, sie werde hier so gut betreut und habe das gar nicht verdient, sie habe viel Unrecht getan. Die Ernsthaftigkeit dieser Äußerung lässt uns länger an diesem Thema bleiben und ich suche nach Möglichkeiten, wie sie damit umgehen kann. Später erfahre ich, dass ihre Tochter aufgrund des Themas der Schuld den evangelischen Pfarrer um einen Besuch gebeten hatte. Als er da war, war kein Gespräch möglich. Immer öfter brauchte Fr. M. Orientierung zum Ort, wo sie sich befindet. Sie fragt oft nach meiner
Familie, manchmal erkennt sie mich nicht. Sie klagt über Schlafprobleme in der Nacht und schläft viel am Tag. Eines ihrer liebsten Lieder heißt: „an der Saale hellem Strande“. Sie singt einmal die Zeile mit: „ihre Dächer sind zerfallen, und der Wind streicht durch die Hallen,.“. Ich komme später noch mal darauf zurück. Mitte Febr. erleidet Fr. M. einen epileptischen Anfall, sie schläft wieder viel. Ich begleite sie in der gewohnten Weise.
Im März folgt noch eine wache, intensive Zeit. Fr. M. ist nicht immer voll orientiert, sie reiht mich mitunter in ihre Familie ein. Ihre Bewegungen beim Erzählen und Zuhören sind wieder intensiver geworden. Im Rollstuhl muss sie fixiert werden. Zweimal sitzt sie im Rollstuhl als ich komme. In einer Stunde äußert sie, sie habe den Anschluss nicht mehr. – Wozu? – zu sich selber, kein Selbst-vertrauen mehr, sie kann sich nicht mehr auf sich verlassen. Sie ist traurig, die Tränen kullern, ihre Bewegungen sind unruhig. Ich ermutige sie zum Weinen und unterstütze sie mit der gesummten Melodie der „Loreley“: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin“. Sie fühlt sich danach entspannter, möchte mich aber nicht belasten und überbeanspruchen.
Auch in den nächsten Stunden geht es um die Verlusterlebnisse. Das Lied „An der Saale“ wird wichtig, weil es ihren Zustand aufzeigt: zerfallene Mauern, ohne Dach, der Wind streicht durch die Hallen. Fr. M. sagt, sie will wieder ein Dach. – Was hat sie früher gemacht, wenn sie traurig war? – Sie war nie traurig, sie war immer fröhlich und habe sich mit anderen getroffen. Ein weiteres Ver-lusterlebnis ist die Unfähigkeit, Kontakte nach außen selber herzustellen. Sie muss warten, dass jemand zu ihr kommt. – Was könnte ihr helfen? – Sie möchte etwas tun, sie würde sich gerne in der Gemeinschaft nützlich machen, z. B. abtrocknen. Auch das ist nur bedingt real umsetzbar. Sie habe auch schon abgetrocknet. Die Zeit ist schon lange um. Ich weise Fr. M. darauf hin. Ich benenne noch einmal ihre Verluste, ihre jetzige Situation und äußere, wie mutig sie damit umgeht, dass sie darüber redet und sich ihren Gefühlen stellt, dass sie sich selber wahrnimmt und ernst nimmt. Das Auseinanderfallen, sich nicht mehr auf sich verlassen können, keine eigene Identität mehr empfin-den, nicht mehr auf andere zugehen können, ihr eigenes Tun nicht mehr selber bestimmen können. Fr. M. wird ruhiger indem ich all diese Punkte benenne und ihr ihre Trauer und Einsamkeit zuge-stehe. Eine tapfere Frau! Aus der Fülle des Lebens herausgerissen in ein Leben der Abhängigkeit!
Die folgende Stunde: Fr. M. ist wach, als ich komme und „nestelt“ im Bett. Sie ist erfreut, dass ich komme und erzählt, sie sei heute auch schon unterwegs gewesen und habe ihr Auto vollgetankt. So vertraut, wie sie spricht, habe ich den Eindruck, dass sie mich in ihre Familie einreiht. Der Ein-druck bestätigt sich gegen Ende der Stunde als sie sich wundert, dass ich von dem, was sie mir eben erzählte, nichts wusste. Jetzt spricht sie davon, dass manche Leute ihre Sprache nicht verste-hen. Ich sage: „Vielleicht hören diese Leute nicht richtig zu“ - um sie zu entlasten. Für diese Ent-lastung ist sie dankbar. Nun erzählt Fr. M. sie sei schuldig geworden. Ich erinnere mich, dass dies auch schon Thema früherer Stunden war und frage weiter um herauszufinden, ob es sich hier um Schuldgefühle im Zusammenhang mit einer depressiven Stimmung handelt, oder ob es in der Ver-gangenheit ein reales Ereignis gab. Zwischendurch vergewissere ich mich, ob Fr. M. wirklich weiter erzählen möchte und ob meine Fragen für sie in Ordnung sind. Sie erzählt nun, sie habe versucht, sich umzubringen. Sie sei auf dem Gleis gestanden und habe gedacht, eine schwarze Lok würde kommen, aber es kam eine grüne Lokomotive von einem Güterzug. – „wie ging es ihnen in dem Moment, als sie da gestanden haben? Welche Gefühle und Gedanken hatten Sie?“ Sie habe gestanden und gedacht: jetzt zerquetscht es dich gleich. Ich beobachte ihre innere Erregung beim Erzählen, sie bewegt Kopf, Arme und Beine im Bett und: sie spricht deutlich! und mühsam. Sie sei unverletzt geblieben, auf die Seite gefallen. Nach einer halben Stunde sei ein Bahnbeamter ge-kommen und habe sie ins Krankenhaus gebracht. Ihre Tochter sei dann dorthin gekommen, sie hatte sie schon vermisst. Ich frage: „wie kam es zu dazu, dass sie sich umbringen wollten? Haben Sie das vorbereitet?“ Sie sagt, sie habe ihren Selbstmordversuch angekündigt gehabt. Es gab eine Ursache für den Versuch: sie hätte ins Gefängnis müssen. Hier frage ich noch mal, ob sie weiter reden möchte, oder lieber beim nächsten mal. Sie sagt, sie sei gestern im Gefängnis gewesen in einer Zelle für zwei Personen. Frank, der Enkelsohn, habe sie wieder herausgeholt. Die weiteren Erzählungen verstehe ich vom Zusammenhang her nicht mehr. Ich denke auch, es ist genug, die Zeit ist um. Fr. M. redet weiter, sie erzählt jetzt von ihrer Familie. Sie habe sechs Urenkel. Beim
Abendlied „guter Mond“ redet sie heute dazwischen, was sie sonst nie getan hat. Auch Frank wird noch mal erwähnt. Fr. M. berichtet auch noch von ihrer ältesten Tochter, die sehr sensibel sei. Sie habe ihr die Sache übelgenommen und seither keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Sie wünscht sich, dass sie kommt. So endet diese Stunde.
Als ich in der folgenden Woche komme erfahre ich, dass Fr. M. einen Tag später einen weiteren epileptischen Anfall erlitten hatte und drei Tage später verstarb. Die Schwester, die mich informierte sagte, Fr. M. habe viel aus der Phantasie erzählt. Bei einem späteren Telefonat mit der Tochter erfahre ich, dass die andere Tochter Selbstmord begangen hat. Das ist die Schuld! Frank ist der Sohn der anderen Tochter. Ich erfahre nun auch, dass Fr. M. zum Pfleger Andreas eine innige Beziehung hatte und er in einer Prüfung mit Fr. M. eine eins bekommen hatte. Er hatte dadurch Fr. M. das Gefühl gegeben, doch noch zu etwas nütze zu sein. Ich sehe hier symbolisch eine Parallele von Andreas zu Frank, der Fr. M. aus dem Gefäng-nis geholt hat. Aus dem Gefängnis des nicht mehr alleine agieren Könnens, der Verluste alles des-sen, was vorher selbstverständlich war. Das Gefängnis mit zwei Betten könnte symbolisch für das Doppelzimmer stehen, in dem sie wohnte. Fr. M. `s Äußerung, sie habe ihr Auto vollgetankt bringt mir im Nachhinein den Gedanken: vollgetankt für die letzte Reise? Ihr Erzählen von ihren Nach-kommen könnte auch darauf hinweisen, dass sie von ihrem baldigen Sterben ahnte. Ich kenne den Gedanken des Weiterlebens in den eigenen Nachkommen von einer anderen Frau, die ich in der Einzelmusiktherapie betreute. Ich bin mit meinem Tod nicht einfach ausgelöscht. Andere tragen mein Erbgut weiter, das wird als tröstlich empfunden.
Biografie (vom Lebensgefährten geschrieben): hat Volksschule, keine Ausbildung, sehr tüchtige
Hausfrau; war tätig als Näherin, Reinemachefrau und hat in einer Druckerei an der Maschine gear-beitet; Aushilfe in einem Lebensmittelgeschäft. Sie wurde auf einem Bauernhof geboren und hat bis zum Kriegsende als Bäuerin gearbeitet. Ehemann ist verstorben. Sie war 20 Jahre mit ihrem Lebensgefährten zusammen und lebte mit ihm als Geliebtem bei ihrem Mann (Information der einzigen Tochter). Ihre Leiden: stark sehbehindert; hatte Blinddarm und Gallenoperation; entzündete Nieren; seeli-sches Nervenleiden; Rippen gebrochen; Handgelenk und Arm gebrochen; Verdauungsstörungen, Blähungen; Bauchdeckenbruch; Gallensteine in den Nebenkanälen; Blasenentzündung; Depressi-on; Alzheimer. Seit sechs Jahren im Heim. Frühere Interessen: sie liebte ihren Hund und ihren Garten, Pflege des Hundes; nähen, stricken, häkeln; sie hat niemals geraucht, keinen Alkohol zu sich genommen, wenig gegessen und sehr sparsam gelebt; sie hatte keine gute Kindheit und wurde im Alter alleingelassen. Sie war ein sehr guter Kamerad, immer hilfsbereit, gefällig, ehrlich, zuverlässig. Weitere Information: der ehemalige Lebensgefährte besucht sie noch ab und zu und bringt zu die-sen Besuchen seine neue Freundin mit. Diagnosen: Alzheimer Demenz, HOPS, Gastrostomie. Medikamente: Eunerpan, Haldol, Diazepam, b. Bed. Novaminsulfon, MCP. Problem: Fr. R. schreit oft laut und stundenlang Meine Ziele: wenn möglich, Gründe des Schreiens herausfinden; Trauer begleiten; wenn möglich Schreiphasen verkürzen, Wohlbefinden und Entspannung fördern.
Interventionen: zu Beginn Volkslieder singen, dann freie, gesummte Melodien; streicheln, schau-keln, beruhigend reden; Lagerung, Inkontinenzeinlage wechseln, zu trinken geben; im Dunkeln tappen, herausfinden, was ihr gut tun könnte; Weinen möglichst verhindern, weil sie dadurch in ihr stundenlanges Schreien rutscht, und sie hat schon so viel geweint. An diesem Punkt bin ich mir noch immer unsicher. Es kam auch vor, dass ich ihr Weinen nicht mehr verhindern konnte. Ich habe mit ihr darüber gesprochen. Auf der Trommel das Schreien aufnehmen, spiegeln, in eine Kommunikation kommen. Auch möchte ich ihr mit einem ruhigen Trommelrhythmus Sicherheit und Gehaltenwerden vermitteln. Mir gelingt es nahezu jedes Mal, sie aus dem Schreien zu holen. Inzwischen weiß ich, dass Fr. R. auch schreit, weil sie Schmerzen hat und kann in dem Fall die verantwortliche Schwester um ein Schmerzmittel bitten. Oft hat Fr. R. kalte Gliedmassen, dann decke ich sie besser zu. Ich ermutige sie zum Seufzen, tief ausatmen, ablassen, loslassen, das Schwere mit dem Atem in die Erde lassen. Ich atme mit ihr zusammen. Frauenkraftlieder sind auch eine zeitlang unser Thema.
Ihr Verhalten: rote Augen, Zuckungen Kaubewegungen, Geräusche mit dem Gaumen, Bewegungen
der Finger – sie hält meine Hand fest, besonders dann, wenn ich Anstalten mache aufzustehen. Intensiver Blickkontakt, sie sucht mich mit den Augen; manchmal ist ihr Blick auch unsicher, dann bedarf es einer längeren vorsichtigen Annäherung. Sie hustet oft und niest, hat kalte Gliedmassen. Ihr Schreien drückt auch Wut und Protest aus. Es kommt vor, dass sie nach einer Lagerung unzu-frieden ist. Einmal schreit sie aufgebracht, nachdem der Lebensgefährte da war. In solchen Mo-menten benenne ich die Situation und unterstütze sie in ihrem Gefühl: „es ist echt eine scheußliche Lage, in der sie sind. Ich kann Ihren Zustand nicht ändern, aber versuchen, Ihnen Erleichterung zu verschaffen.“ Oft spüre ich ihre Dankbarkeit danach, wenn sie sich beruhigt hat, indem sie mich mit intensivem Blick festhält, der ihre ganze Not ausdrückt, und indem sie fest meine Hand um-klammert. Sie saugt jede Liebkosung auf. Hier bedarf es nur des annehmenden Daseins. Weniger ist mehr. In der Begegnung mit ihr fällt mir oft der Spruch aus der Bibel ein: „ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Eine weitere Intervention ist hier der Einsatz von basaler Stimulation, genauer: ich streiche ihren Körper in festen, gleichmäßigen Bewegungen von oben nach unten durch. Der Körper ist unsere Ausgangsquelle, er wird oft als Quelle des Schmerzes empfunden. Dieses Ausstreichen macht einzelne Körperteile wieder bewusst und trägt zum Wohlbefinden bei. Das Ausstreichen hat auch eine ausgleichende Wirkung (was die Stimmung betrifft). Ich spüre bei Fr. R. immer wieder eine abgrundtiefe Traurigkeit. Vor einigen Jahren sagte sie zu einer Nachtschwester: „ich bin so traurig, ich bin so allein.“ Rückmeldungen vom Personal: „was hast du mit Fr. R. gemacht, sie ist ja total entspannt. Der ganze Gesichtsausdruck ist verändert.“ Fr. R. hat jetzt oft Phasen, wo sie wach und ruhig im Bett liegt. „Fr. R. ’s Weinen hat sich verändert. Es wurde intensiver, klingt mehr nach einem Schluch-zen.“ Fr. R. ist nach 1 ½ Behandlung verstorben.
Ihre Lebensgeschichte habe ich mit ihr zusammen in den ersten Therapiestunden aufgeschrieben:
Fr. A. hatte 5 Geschwister. Sie lebte im Raum Stuttgart, dort hatte der Vater ein Haus gekauft. Dann war sie im Internat, wo sie kochen und Haushaltsführung lernte. Als sie 20 Jahre alt war, starb der Vater (noch vor dem 2. Weltkrieg), da musste Fr. A. ihre Ausbildung aufgeben. Mit 20 Jahren hat sie geheiratet. Der Bruder unterschrieb die Heiratserlaubnis, da der Vater bereits ver-storben war. Fr. A. hat zwei Töchter: Ruth und Ute. Ruth kam in die Schule, als Fr. A. ein Ferien-heim der evangelischen Kirche mit 70 Kindern im Wald übernahm. Sie liebte diese Aufgabe. Junge Frauen betreuten je 10 bis 12 Kinder. 2. Weltkrieg: jeden Tag musste sie mit dem anderthalb- jährigen Kind in den Stollen gehen. Als sie das Kind einmal vor dem Haus im Waschkorb stehen hatte und noch etwas im Haus holte, war der Pelzmantel gestohlen, mit dem das Kind im Wasch-korb zugedeckt gewesen war. Die ältere Tochter war beim Arbeitsdienst in Mannheim eingeteilt. Das Ferienheim im Wald wurde ausgebombt. Fr. A. ’s Mann, der bei einer Firma im Kriegsdienst gearbeitet hatte, kam erst, als das Haus schon abgebrannt war. Auch sein geliebtes Klavier war nicht mehr zu retten. Sie kamen bei Verwandten in Stuttgart unter, bezogen bald eine neue Woh-nung und wurden dort zweimal ausgeplündert. Fr. A. und eine Nachbarin waren anwesend (sie mussten sich mit dem Gesicht zur Wand stellen. Alle Lebensmittel wurden auf den Boden geleert, alles Brauchbare wurde mitgenommen). Sie mussten dann auf dem Boden schlafen, bis ihre Mutter einen neuen Bettrost brachte. Die Kinder wickelte sie in Vorhänge ein. Die neue Wohnung brannte auch wieder ab. Fr. A. ging nun zu ihrer Schwester in den Keller im Haus gegenüber. Das Ferien-heim wurde neu aufgebaut, aber nicht mehr so wie früher. Sie wollte nicht mehr dort hin. Ihr Mann war nach dem Bombenangriff arbeitslos. Er wurde krank: Drüsenkrebs, wurde dreimal operiert, wollte nicht ins Krankenhaus. Sie pflegte ihn anderthalb Jahre bis er starb. Er wollte, dass sie ihm Tabletten zum Einschlafen gibt. Fr. A. kam dadurch in arge Gewissensnöte. Sie hat es nicht getan. ihr Mann ist seit 40 Jahren tot. – Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie bei ihrer älteren Tochter und passte auf deren Kinder auf während sie zur Arbeit ging. Später wohnte sie alleine. Sie ging gerne zu Bällen. Ihre Ballkleider hat sie später an bedürftige Menschen im Osten verschenkt. Das Ferienheim ist immer noch in Betrieb, ihre Urenkel verbringen dort ihre Ferien. Sie hat viel in ihrem Leben gearbeitet.
Diagnosen: Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus Typ 2, Hypertonie, degeneratives Wirbelsäulenlei-den, COLD. Probleme: Schmerzzustände, trockene Haut, nächtliche Unruhe durch sehr realistische Träume (Militär vor dem Fenster, Mord und Totschlag, Bombennächte – sie ist in den Flammen, alte Frau steht am Nachttisch, ehemaliger Zivi steht nachts im Zimmer und geht nicht mehr weg). Ihr Lebensmotto: „steh auf und hilf dir selbst“. Ihre Mutter verlor ihren Mann auch früh, sie waren
Ich habe Fr. A. in der Nachtwache betreut, bevor ich mit der Musiktherapie begann. In der Nacht ging es ihr zum Teil sehr schlecht. Sie würgte viel Sputum heraus. Monatelang sah sie aus, als würde sie jeden Augenblick sterben. Durch Medikamente hatte sie zum Teil optische und akusti-sche Halluzinationen; sagte sie selber.
Unsere ersten Stunden dienen der Erstellung ihrer Biografie. Fr. A. erzählt ausführlich und immer wieder von der Zeit im Ferienheim. Die Zeit nach dem Tod ihres Mannes kommt dagegen nie vor. Als ich nachfrage sagt sie selber, da sei sie steckengeblieben. Symbolisch kann das Steckenbleiben gesehen werden in ihrem ständigen körperlichen Schmerz – sie bekam Durogesic-Pflaster - und auch in ihrem Unvermögen, aus dem Zimmer zu gehen. Sie war den ganzen Tag angezogen im
Bett. Wenn sie von ihrem Mann erzählt weint sie. Sie ist nie über seinen Tod hinweggekommen und vermisst ihn immer noch. Ich bringe meine Zither mit, die sie an ihre eigenen Zitherstunden erinnert. Fr. A. spielt ein paar Töne darauf. Doch sie unterbricht jegliche Art von Musik durch Reden. Manchmal kann sie gar nicht aufhören zu erzählen. Endlich hört ihr jemand zu.
Viel Raum nimmt ihre aktive Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Sie macht sich Gedanken,
dass ihr Familienname aussterben wird. Sie wird in ihren Kindern weiterleben. Sie hat keine Angst vor dem Tod. Oft äußert sie sterben zu wollen, ein anderes mal sagt sie, sie aber doch noch ge-spannt, wie es in der Welt weitergeht.
Eine typische Stunde am Anfang : Fr. A. liegt zitternd im Bett, hatte ein neues Pflaster bekommen. Sie wünscht Sterbelieder „ so nimm denn meine Hände“, „befiehl du deine Wege“. Ich begleite mit
der Querflöte. Sie erinnert sich an früher, als sie hinter dem Leichenwagen herging und für ein Fünferle Sterbelieder gesungen hat. Jetzt erzählt sie von der Volksschule, sie war die beste Sänge-rin – diese Erinnerung belebt sie – und sie hatte vier Freundinnen, die sich immer im Steinbruch getroffen haben und Lumpenlieder geschmettert haben. Fr. A. lebt nun ganz auf in dieser Erinne-rung und wir singen zwei dieser „Lumpenlieder“ zum Abschluss dieser Stunde. Beim Singen lässt das Zittern nach, in die gebrechliche Stimme kommt Festigkeit.
Da Fr. A. viele Träume hat erzählt sie diese mir gerne. Sie empfindet es als Erleichterung zu reden.
Fr. A. träumt von all ihren verstorbenen Verwandten (dabei zieht sie Lebensbilanz und setzt sich zum Teil auch mit unerledigten Geschichten auseinander. Ganz oft träumt sie von ihrem Mann. Z. B. sieht sie ihren Mann auf dem Sessel in ihrem Zimmer sitzen. Oder ihre Mutter und ihre Schwes-ter sind da und trinken bei ihr Kaffee. Die Träume sind so real, dass Fr. A. hinterher Orientierung braucht, in welcher Wirklichkeit sie sich befindet: Was ist innere Wirklichkeit, was äußere? Sie äußert Angst, nicht mehr normal zu sein. Die Träume aktualisieren das Thema Abgrenzung und Angst vor Verlust. Fr. A. wurde in ihrem Leben mehrmals von Ereignissen überrollt. Jetzt brechen unerwartet Träume auf, Angstphantasien in der Nacht (vermutlich hatte sie in früheren Phasen ihres Lebens Existenzängste), durch die sie nur schwer ihre Orientierung behält. Ich lese dazu ein Buch von Elisabeth Kübler-Ross („Über den Tod und das Leben danach“) und berichte Fr. A. davon. Der Gedanke, dass im Sterben eine gelieb-te Person kommt und einen abholt tröstet sie. Sie weiß sofort: das ist mein Mann. Wir reden noch von der Politik. Sie scherzt am Ende der Stunde, ich solle ihr dann eine Karte in den Himmel schi-cken, wie es auf der Erde weitergegangen sei.
Mit der Zeit äußert Fr. A. den Wunsch, mit anderen Leuten zusammen zu treffen und zu singen. Ich bemühe mich zuerst um Herstellung des Kontaktes zu ihrer Nachbarin, Fr. S. Diese ist gut zu Fuß und engagiert. Fr. S. ist gerne bereit und engagiert noch weitere Frauen, die nun zum Singen ins Zimmer kommen. Ich leite an. Mitunter sind sechs Frauen bei-
einander. Sie entdecken Gemeinsamkeiten, tauschen sich aus, lachen, fühlen mit. Fr. A. kommt somit noch einmal in ihre früher geliebte Rolle als Gastgeberin. Sie schenkt Sekt aus und bietet Kekse an. Diese Aktionen beleben sie. Nun ist sie auch zweimal bereit, zum adventlichen Singen, das ich auf der Wohngruppe anbiete, zu kommen. Sie genießt und braucht an dem Abend kein Schmerzmittel. Mit Fr. S. entwickelt sich eine schöne Freundschaft. Fr. S. besucht Fr. A. täglich. Sie vereinbaren Klopfzeichen an der Wand wenn sie morgens aufstehen und abends ins Bett gehen.
Ihren 94. Geburtstag kann Fr. A. noch im Kreis ihrer Familie feiern, allerdings ist sie sehr schwach. Sie erbricht viel Sputum, lehnt das Singen mit den anderen Frauen ab, sie kann nieman-den mehr empfangen und ist froh um meine Begleitung. In einer Stunde massiere ich ihre kalten
Füße, hole ihr eine Wärmflasche und singe ihre Sterbelieder. Sie bewegt die Lippen mit, immer wieder fallen ihr die Augen zu. Sie sagt, sie sei schon halb gestorben; hoffentlich gehe es nicht mehr lange. Sie wird zunehmend schwächer. Kurz darauf erzählt sie mir ihren letzten Traum, den sie zweimal hatte; nebenher halte ich ihre Hand – sie ist froh, dass ich da bin: sie hätte Rainer (ein Krankenpfleger; er feierte seine Trauung im Heim; Frau A. war dabei und sah sich selber noch mal am Traualtar stehen) und Andreas (ein Zivi, den sie mag) getroffen, die zum Wandern in die Berge wollten. Sie hätten sich unterhalten und spontan habe sie gesagt, sie würde mitwandern, müsste aber noch Wanderschuhe kaufen. Das tat sie und ging mit. Sie liefen zu dritt. Plötzlich brach unter Frau A. die Erde weg und sie fiel in einen Abgrund. Auf der einen Seite sei ein großes Wasser gewesen, da hätte sie nicht hinkönnen. Und so versuchte sie, wieder hoch zu klettern. Es war aber mühsam. So setzte sie sich hin und wartete ab. Für mich zeigt der Traum symbolisch ihre Jugend mit Wandern, was sie gerne getan hatte. Das Wegbrechen der Erde hat sie in ihrem Leben mehrmals erlebt und sich immer wieder aufgerappelt und konnte hochklettern. Jetzt geht es nicht mehr, auch das Wasser kann sie nicht erreichen. Eine Situation, in der sie innehält und abwartet. Sie ist innerlich ruhig und kann warten. Ihr Sterben erwarten. Früher hatte sie ein Traumtagebuch. Sie sei viel und gerne gewandert. Wir singen spontan das Lied „Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, steigen dem Gipfelkreuz zu“.
Dann kam unsere letzte Musiktherapiestunde. Frau A. liegt im Bett, sie hat die Augen fast durch-gehend geschlossen. Frau S. und ich (Frau P. kommt noch) haben ausgemacht, Frau A. etwas vor-zusingen. Frau S. singt spontan „O du lieber Augustin“. Bei „alles ist hin“ lächelt Frau A. – sie hat’s positiv verstanden – sie liegt im Bett wie: alles ist hin. (Ich hatte Fr. S. nicht unterbrochen, obwohl ich das Lied in der Sterbesituation fast makaber fand. Fr. S. hatte die Situation treffend erfasst). Zu den anderen Liedern (Frühlings- und Mailieder) bewegt Fr. A. die Lippen mit. Sie äußert, dass sie unser Dasein genießt, sie muss nichts machen und wird aufgemuntert. Abendlied „Guter Mond, du gehst so stille“. Nach einer halben Stunde ist es genug und wir gehen. Alle drei sagen: Der Dienstag ist der schönste Tag der Woche. Kurz darauf ist Fr. A. morgens friedlich für immer eingeschlafen.
Kristin Schwarz geb.1963 in Friedrichshafen, eine Tochter, längerer Aufenthalt in Südafrika, Praktika in unterschiedlichen sozialen Bereichen, viele Jahre in der Altenpflege tätig,– Musiktherapie-Ausbildung an der Universität Siegen, Musiktherapeutin BVM, geprüfte Heilpraktikerin für Psychotherapie, ausgebildet an der HPP-Schule in Rangendingen. meine Tätigkeiten als Musiktherapeutin: 4 Jahre Mitarbeit in der Psychomotorik bei der psychologische Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche. Träger: Caritas. im Franziskuszentrum, Pflegeheim, Rehabilitation und Hospiz der Stiftung Liebenau, betreute ich ein Jahr lang einen schwerst pflegebedürftigen jungen Mann mit apallischem Syndrom
(infolge Verkehrsunfall und Wiederbelebung).
im Gustav-Werner-Stift, Altenpflegeheim, seit vielen Jahren offenes Volksliedersingen mit Be-wohnern und Angehörigen bzw. Betreuern auf zwei Wohngruppen, sowie eine Einzelmusikthera-pie. Hier stehen mir insgesamt drei Stunden zur Verfügung. seit 6/99 Musiktherapie im Königin-Paulinenstift, Altenpflegeheim. Ich leite eine Gruppe mit 5-8 Personen unterschiedlicher Krankheitsbilder und betreue mehrere Einzelpersonen, die zum Teil bettlägerig sind. seit September 03 bin ich in eigener Praxis in Friedrichshafen tätig. Vertretungsweise auch in der Psychiatrischen Tagesklinik und der Tagesrehabilitation für Suchtkranke. Anschrift: Kristin Schwarz Tannenweg 1 D-88046 Friedrichshafen Tel.: 07541-286252 Fax: 07541-286253 Email: klangimpuls@t-online.de
__________ ASSOCIATION QUÉBÉCOISE DES AMIS DE CUBA (AQAC) ___________ MESSAGE FROM THE BROTHER OF FABIO DI CELMO MENSAJE DEL HERMANO DE FABIO DI CELMO From: "freethe5" at freethefive@actionsf.org (La versión en Español sigue a continuación de la version en Ingles.) "Message from the brother of Fabio Di Celmo, the Italian citizen who was killed in Havana by a terrori