Faq_22 fragen zur depression

22 häufig gestellte Fragen zur Depression
beantwortet von Florian Holsboer
1. Was ist eine Depression?
Die Krankheit Depression ist von der normalen Gemütsreaktion auf ein emotional
negativ belastendes Ereignis abzugrenzen. Die Grundlagen des heutigen
Verständnisses der Depression hat in erheblichem Maße der Psychiater und Gründer
des jetzigen Max-Planck Instituts für Psychiatrie, Emil Kraepelin, Ende des 19.
Jahrhunderts geschaffen.
Die Depression kann viele unterschiedliche Formen annehmen. Man versuchte sie
durch bestimmte diagnostische Kriterien zu definieren, allerdings sind die Übergänge
zwischen den verschiedenen Depressionsformen fließend und das starre Festhalten
an Diagnoseschemata hat sich als wenig zielführend für Therapie und Forschung
erwiesen.
Eine Depression kann schleichend beginnen oder aber auch ganz plötzlich auftreten,
wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die typischen Symptome sind traurige
Verstimmung, Schlafstörungen, schlechte Konzentration, Müdigkeit, Reizbarkeit,
Verlangsamung des Bewegungsablaufs, Appetitmangel und Gewichtsverlust sowie
Hoffnungslosigkeit und die Unfähigkeit, sich an Ereignissen in der unmittelbaren
Umgebung emotional zu beteiligen. Oft bestehen Tagesschwankungen -
typischerweise ist die Depression am Vormittag stärker ausgeprägt als am
Nachmittag. Das Interesse an normalerweise positiv getönten Aktivitäten ist
abgestorben, es fehlt fast immer an sexuellem Verlangen bis hin zur Unfähigkeit zur
sexuellen Betätigung. In schweren Fällen ist die Hoffnungslosigkeit so ausgeprägt,
dass der Lebenswille erlischt und Selbsttötungsgedanken auftreten bis hin zur
Planung und Durchführung von Selbsttötungsversuchen.
Bei einer relativ kleinen Zahl von Patienten mit Depression entstehen unrealistische
Gedanken, wie zum Beispiel, die Depression sei die gerechte Strafe für Verfehlungen
im früheren Leben. Diese sogenannten Wahnideen sind mitunter religiös gefärbt und
werden oft als Strafe Gottes erlebt. Es kann bei diesen Wahnideen auch zu anderen
realitätsfernen Befürchtungen kommen. Der Erkrankte meint, schwer verschuldet zu
sein, könne sich den Krankenhausaufenthalt gar nicht leisten und würde die Familie
ins Verderben ziehen. In anderen Fällen stehen unrealistische Befürchtungen über
die körperliche Verfassung im Vordergrund, hierbei spielen Annahmen eine große
Rolle, wonach sich im Körper eine schwere, bislang noch unerkannte Erkrankung
ausbreiten würde, die noch nicht gefunden sei. Diese Patienten konsultieren oft viele
Ärzte und unterziehen sich immer wieder relativ unangenehmen Diagnoseverfahren,
z.B. Magenspiegelungen, weil sie nicht glauben können, dass ihre
depressionsbedingten Befürchtungen keine Grundlage haben.
Eine seltene, überwiegend bei Frauen auftretende Form, sind die sehr kurz
andauernden akuten depressiven Verstimmungen, die oft nur einen Tag oder ein bis
zwei Wochen dauern und dann wieder von selbst abklingen. Eine ebenfalls selten
auftretende Form ist die chronische Depression, bei der trotz aller therapeutischen
Bemühungen nur eine geringgradige Besserung erreicht werden kann.
Eine weitere Sonderform der Depression, die etwa bei 1% der Bevölkerung - im Vergleich zu 15% für die typische schwere Depression - auftritt, ist die manisch-depressive Krankheit. Hierbei können neben depressiven Episoden auch sogenannte manische Episoden beobachtet werden. In gewisser Weise sind diese manischen Episoden der Gegenpol zur depressiven Episode. Hierbei ist die Stimmung anhaltend gehoben, sorglos heiter bis gereizt erregt. Der Patient ist in seiner Aktivität so gesteigert, dass sich das sowohl im sozialen als auch im beruflichen Bereich niederschlägt. Patienten mit einer gering ausgeprägten manischen Episode sind oft sehr effizient, leisten mehr als sonst, haben ein geringes Schlafbedürfnis, ohne das Gefühl zu haben, sich verausgaben zu müssen. Bei starker ausgeprägter Manie allerdings wird die berufliche Überaktivität dann oft zu einem wirtschaftlichen Problem, denn es fehlt an Selbstkritik, es kommt zur Selbstüberschätzung und nicht selten fühlt sich etwa ein Abteilungsleiter mit einer Manie schnell zum Konzernchef berufen, will das Unternehmen umstrukturieren oder gibt sehr viel Geld, auch persönliche Mittel, für nicht angemessene Anschaffungen (Villa, Luxuslimousine etc.) aus. Auch im sozialen Bereich kommt es zu Problemen, vor allem wegen der Distanzlosigkeit und Kritikschwäche, zum Beispiel gegenüber Alkohol sowie der Neigung zu sexuellen Ausschweifungen. In einer später nachfolgenden depressiven Episode werden die Handlungsweisen während der Manie oft schuldhaft und belastend empfunden. Depressionen können zwar in jedem Lebensalter erstmals auftreten jedoch kommt das Vollbild einer Depression im mittleren Lebensalter am häufigsten vor. Verlaufsuntersuchungen haben gezeigt, dass die Vorboten für Depressionen bereits im frühen Lebensalter zu erkennen sind, allerdings nicht als Depression, sondern als Angsterkrankungen. Wir wissen heute, dass junge Menschen mit Angsterkrankungen, zum Beispiel Panikattacken, ein erhöhtes Risiko haben, später an einer Depression zu erkranken. Erst im hohen Alter ist das Risiko, erstmals an einer Depression zu erkranken, vermindert. Allerdings wissen wir nicht, ob sich Depressionen im Alter nicht in Wirklichkeit hinter einigen Formen der im Alter gehäuft vorkommenden Demenzen verstecken.
2. Depression, eine häufige Krankheit
Depressionen sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Epidemiologische Studien
haben gezeigt, dass zumindest 15% der Bevölkerung im Laufe des Lebens an einer
Depression erkranken. Hierbei sind nicht die leichten depressiven Verstimmungen
gemeint, die man als normale Gemütsreaktion verstehen könnte, sondern diejenigen
Depressionen, die so stark beeinträchtigen, dass man sie behandeln muss - oder
besser gesagt – müsste, denn nur zu oft werden Depressionen nicht erkannt.
Wie gravierend sich das häufige Vorkommen von Depressionen auf unser
wirtschaftliches und soziales Leben auswirkt, hat eine Studie der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) gezeigt, derzufolge Depressionen neben
Herzkreislauferkrankungen die weltweit führende Ursache für die durch Behinderung
beeinträchtigten Lebensjahre sind. Diese Berechnung ist auf die gesamte
Lebensspanne bezogen. Engt man die Altersspanne auf 15 bis 44 Jahre ein, wird der hohe Stellenwert dieser psychiatrischen Erkrankungen und hier der Depression besonders deutlich. Sie machen etwa ein Viertel aller durch Behinderung beeinträchtigten Lebensjahre dieser Altersgruppe aus. Auch die Krankenversicherungen können hiervon ein Lied singen: Antidepressiva gehören zu den meistverschriebenen Medikamenten überhaupt und nehmen einen Spitzenplatz bei den Arzneimittelkosten der gesamten Medizin ein. Noch viel gravierender fallen die hohe Zahl der im Krankenhaus verbrachten Zeit und die Kosten für Arztbesuche und Psychotherapie ins Gewicht. Der schwerwiegendste Faktor aber sind die enormen Ausfallzeiten durch krankheitsbedingte Abwesenheit und die Frühberentung. Die Kosten hierfür sind eine enorme Belastung für Arbeitgeber, Krankenkassen und das Rentensystem. Sowohl die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der Depression, aber auch die große Zahl der tragischen Einzelschicksale, weisen die Depression als eine Erkrankung aus, die große Auswirkungen auf die Bevölkerung hat. Dem Einzelnen, der von der Erkrankung betroffen ist, wird dadurch signalisiert, dass er mit seinem Schicksal nicht alleine ist. Tatsächlich kann die Depression jeden treffen. Es ist nicht eine Erkrankung der Armen, Unterprivilegierten, derer, die am Rande der Gesellschaft leben und in wirtschaftlicher Notsituation sind. Das Bekenntnis des Deutschen Fußballspielers Sebastian Deisler, der scheinbar auf dem Höhepunkt seiner Karriere an einer schweren Depression erkrankte und dies öffentlich machte, ist nur ein Beispiel, dass die Depression auch die ‚Erfolgreichen’ erreichen kann. Es gibt hierfür viele Beispiele. Das berühmteste Bild zum Thema Melancholie stammt von Albrecht Dürer, der selbst großen Wert darauf legte, dass sein Gemütsleiden als Depression oder, wie man damals sagte, Melancholie erkannt würde. Die Liste erfolgreicher Persönlichkeiten aus Kunst, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist lang: Ernest Hemingway und Klaus Mann sind ebenso dabei wie Ted Turner (Gründer des Nachrichtensenders CNN), Winston Churchill, Prinz Klaus der Niederlande und Keanu Reeves. Auch Michelangelo, Karl May, Frederic Chopin und Rudolf Diesel waren an Depression erkrankt.
3. Kommen Depressionen heute häufiger vor als früher?
Legt man die Diagnosenentwicklung, zum Beispiel aus Krankenkassenstatistiken zu
Grunde, dann könnte man diesen Eindruck tatsächlich gewinnen und viele hätten
dann auch schon die Erklärung parat: Weil unser Leben eben so viel Stress mit sich
bringt, werden vermehrt Depressionen ausgelöst. Hier sollte man aber sehr vorsichtig
sein. Die Epidemiologie ist immer so gut wie die Erhebungsmethodik. Früher, als
Depressionen vermeintlich seltener waren, war die Bereitschaft wesentlich geringer
als heute, Symptome einer Depression bei einer epidemiologischen Befragung
preiszugeben. Durch wirkungsvolle Aufklärungsarbeiten, ich nenne hier das
Kompetenznetzwerk des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Thema
Depression, aber auch die gute Arbeit zahlreicher Selbsthilfegruppen, ist das Thema
Depression in der Öffentlichkeit weniger negativ besetzt als noch vor 10 oder 20
Jahren. Natürlich haben Menschen, die heute im öffentlichen Leben stehen, wie der Fußballspieler Sebastian Deisler, der Filmschauspieler Keanu Reeves oder die Sängerin Michelle hierzu beigetragen. Wenn, wie manche meinen, die Depression eher eine Art Zivilisationskrankheit oder Modekrankheit wäre, dann müssten sich ja die Häufigkeiten der Depression in Industriestaaten von denen in den so genannten Drittweltländern oder Schwellenländern unterscheiden. Es gibt aber starke kulturelle Unterschiede in der Art und Weise, wie Patienten ihre Depression wahrnehmen und auch im Falle einer epidemiologischen Erhebung berichten. Man kann mit den Erhebungsfragebögen, die in Westeuropa entwickelt worden sind und sich von Erhebung zu Erhebung ändern, nicht genau feststellen, ob die Veränderungen durch die Änderungen in den Fragebögen oder durch die Änderungen in den Häufigkeiten der Erkrankung zu suchen sind, und man kann schon gar nicht erwarten, dass mit dem gleichen Fragebogen - jeweils in die betreffende Sprache übersetzt - in der Ukraine das Gleiche herauskommt wie in Kolumbien, in Südchina, Schweden oder Japan. Tatsächlich variieren die Häufigkeitszahlen zwischen 10 und 25%, aber nicht systematisch, sondern kreuz und quer von Land zu Land. Werden Erhebungen gemacht, die auf die ethnischen und kulturellen Besonderheiten einer Region eingehen, kommt immer das Gleiche heraus, nämlich 10-12%.
4. Erkranken Frauen häufiger an Depression?
Vergleicht man die Diagnosenhäufigkeit bei Frauen mit der von Männern, fällt auf,
dass Frauen etwa doppelt so häufig an Depression zu erkranken scheinen.
Allerdings kann es sich hierbei um ein Artefakt handeln, denn je schwerer die
Depression ist, desto mehr gleichen sich Frauen und Männer in ihren
Häufigkeitszahlen an. Die manisch-depressive Erkrankung tritt bei Frauen und
Männer gleich häufig auf. Es kann also sein, dass die größere Häufigkeit der
Diagnose Depression bei der Frau vor allem durch die leichteren
Ausprägungsformen erklärt werden können. Hier muss an die Möglichkeit gedacht
werden, dass Männer bei der Preisgabe depressiver Symptome und dem Weg zum
Arzt, um sich wegen einer Depression behandeln zu lassen, zurückhaltender sind.
Eine Besonderheit, die Frauen gegenüber depressiven Verstimmungen bis hin zur
schweren wahnhaften Depression anfälliger macht, existiert aber doch: Dies ist das
erhöhte Risiko, zum Zeitpunkt der monatlichen Regelblutung zu erkranken, sowie bei
anderen hormonellen Umstellungen wie der Geburt und der stark verminderten
Produktion von Sexualhormonen bei Frauen Ende des vierten Lebensjahrzehnts. Vor
allem die starken Stimmungsschwankungen nach der Geburt, bei der eine massive
Abnahme frauenspezifischer Hormone wie Östrogene und Progesteron stattfindet,
sind charakteristische Symptome im Wochenbett. Selten kommt es dabei sogar zur
schweren wahnhaften Depression.
5. Die Depression, eine potentiell tödliche Erkrankung?
Nach offiziellen Statistiken nehmen sich jedes Jahr in Deutschland 12.000 Menschen
das Leben durch Selbsttötung. Da Selbsttötungsversuche und Selbsttötung mit
erheblichen sozialen, aber auch mit finanziellen Nachteilen für die Angehörigen
verbunden sind, nimmt man zu Recht an, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist.
An den nichtnatürlichen Todesursachen, die durch Verletzung und Vergiftung
entstehen, sterben pro Jahr 35.000 Menschen, hiervon 23.000 Männer und 13.000
Frauen. Wir müssen annehmen, dass sich auch hierunter viele „versteckte“
Selbsttötungen befinden.
Etwa 16% aller Menschen mit Depression und 30% der Patienten mit bipolarer
(manisch-depressiv) Depression begehen einen Selbsttötungsversuch. An
Selbsttötung sterben 6% aller Patienten mit Depression, bei bipolarer Depression ist
die Zahl etwa doppelt so hoch.
Wenn man diese Zahlen sieht, dann muss man feststellen, dass die Depression eine
potentiell tödliche Erkrankung ist. Die besondere Tragödie dabei ist, dass anders als
bei anderen schweren Erkrankungen, zum Beispiel Krebserkrankungen, der Tod
durch Selbsttötung grundsätzlich verhinderbar ist. Daher ist es umso wichtiger,
Patienten mit schweren Depressionen, immer wieder zu erklären, dass die
momentane Verzweiflung und Hilflosigkeit als typisches Zeichen ihrer Erkrankung
vorübergeht und damit auch der Wunsch verschwinden wird, der Krankheit durch
Selbsttötung zu entfliehen.
Wir dürfen nicht übersehen, dass der Patient ja nicht das Leben an sich beenden will,
die Selbsttötung geschieht aus einem Impuls, weil er die Depression nicht mehr
aushalten kann.
Es gibt auch andere Ursachen als Depressionen, die zu einer Selbsttötung führen
können. So begeht ein erheblicher Anteil der Menschen, die an einer
Alkoholabhängigkeit oder anderen Suchtkrankheiten leiden, einen
Selbsttötungsversuch, der vor allem bei älteren Männern zum Tode führt. Ein
gewisser Prozentsatz, man schätzt 8-10%, begeht eine Selbsttötung in Folge einer
negativen Lebensbilanz, oft nach beruflicher Enttäuschung und wenig Rückhalt in der
Familie. Es kommt auch zu Selbsttötungsversuchen nach dem Verlust eines
Partners. Gerade solche Ursachen führen zu Selbsttötungshandlungen, die für
Außenstehende nur selten vorhersehbar sind.

6. Fördern Antidepressiva das Risiko für Suizide bei Kindern und
Erwachsenen?

In den vergangenen Jahren ist diskutiert worden, ob Kinder, bei denen eine
Depression diagnostiziert wurde, unter einem bestimmten antidepressiv wirkenden
Medikament ein erhöhtes Selbsttötungsrisiko hätten. Abgesehen davon, dass sich
die Herstellerfirma hier nicht besonders geschickt bei der Offenlegung der
Studienergebnisse verhalten hat, ist festzustellen, dass weder bei Kindern noch bei
Erwachsenen durch Antidepressiva Selbsttötungen provoziert werden. Im Gegenteil,
die Gedanken nicht mehr leben zu wollen, klingen unter diesen Medikamenten ab. Man muss lediglich die einzige Einschränkung machen, dass ein schwer depressiver Patient, der unter Selbsttötungsgedanken leidet, immer dann, wenn durch das Medikament der Antrieb wieder normalisiert ist, die Stimmung aber noch sehr von Verzweiflung geprägt wird, diese Antriebssteigerung unter Umständen die Umsetzung der Selbsttötungsgedanken in die Tat unterstützt. Insgesamt aber muss ganz klar festgehalten werden, dass das Hauptrisiko für den Selbsttötungsversuch, egal welcher Altersgruppe, die Depression selber ist und nicht das Medikament, das zur Behandlung der Depression gegeben wird. Tatsächlich gibt es aber einige Medikamente, die wegen anderer Erkrankungen gegeben werden, z.B. gegen Epilepsie, die zu schweren depressiven Verstimmungen führen können. Besonders bei zur Depression veranlagten Menschen kann hierdurch eine Depression ausgelöst werden.
7. Ursachen der Depression
Früher hat man zwischen neurotischer und endogener Depression unterschieden in
der Annahme, es gäbe für die endogenen Depressionen eine organische Ursache,
wohingegen der neurotischen Depression eine nichtorganische Ursache zugrunde
läge, die durch äußere Faktoren wie soziales Umfeld, Kindheitserfahrungen etc.
hervorgerufen würden.
Die Erforschung des Gehirns mit Methoden der Naturwissenschaften einschließlich
der experimentellen Psychologie haben hier eine neue Sichtweise geschaffen: Die
Depression ist eine Erkrankung des Gehirns. In diesem Organ werden in Milliarden
kleinen Nervenzellen, die alle in komplexen Schaltkreisen in Verbindung zueinander
stehen, Lebenseinflüsse registriert und gespeichert sowie die entsprechenden
Antwortmuster programmiert und an alle anderen Gewebe des Körpers
weiterversendet. In welcher Art und Weise die äußeren Einflüsse, die wir über
Sinnesorgane wie Augen und Nase, Geschmacksnerven und Körperberührungen
aufnehmen in unserem Gehirn abgespeichert werden, hängt von unserem früheren
Gebrauch des Gehirns, also den abgespeicherten Informationen ebenso ab, wie von
unserer genetischen Ausstattung. Fast die Hälfte aller unser Gene sind nur dazu da,
die Blaupause für das Funktionieren unseres Gehirns herzustellen. Da kann es
schon einmal zu größeren oder kleineren Abweichungen kommen, die den Einzelnen
dann verletzbar für äußere Einflüsse machen. Man nimmt an, dass die genetischen
Anteile für die typische Depression bei 50% liegen, während der genetische Anteil für
die manisch depressive Erkrankung über 80% ausmacht. Diese genetische
‚Verletzbarkeit’ ist nicht auf ein einzelnes Gen zurückzuführen, sondern auf eine
Vielzahl unterschiedlicher Gene. Diese Gene bestimmen, ob wir gegenüber äußeren
Ereignissen, die starke Stressreaktionen auslösen, verletzlich sind und als Folge eine
Depression bekommen. Es kann aber auch umgekehrt sein, dass eine besondere
genetische Veranlagung dazu führt, dass wir gegenüber Stresssituationen
überdurchschnittlich belastbar sind. Die Frage also, ob wir an einer Depression als
Folge einer Stresssituation erkranken, ist immer nur aus dem Wechselspiel zwischen
äußeren Einflüssen und genetischer Veranlagung zu beantworten.

8. Woher weiß ich, ob ich eine Veranlagung zur Depression habe?
Der sicherste Hinweis für eine Veranlagung ist das Vorhandensein von Depression
bei leiblichen Angehörigen. Hiervon sollte man sich aber nicht über Gebühr
beunruhigen lassen, denn die Depression wird nicht nach einem einfachen
Erbvorgang weitergegeben. Vielmehr ist die Erblichkeit über viele Gene weit
verstreut. Jedes dieser Gene ist nur geringfügig verändert und trägt in
unterschiedlichem Ausmaß zur genetischen Disposition bei. Durch äußere
Einflussfaktoren kann die Genaktivität akut und nur vorübergehend oder aber
bleibend verändert werden, so dass es spontan oder erst allmählich zur
Manifestation klinischer Symptome kommen kann.
Wichtig ist es zu wissen, dass ein genetisches Risiko durch familiäre Belastung
besteht und dann auch auf die Entstehung früher Krankheitszeichen, wie zum
Beispiel Schlafstörungen, vegetative Veränderungen, Angstanfälle zu achten und
früh gegenzusteuern.

9. Wie erfolgt die Behandlung der Depression?
Vergleicht man eine große Zahl von Patienten mit Depression, dann gibt es einen
klaren Zusammenhang zwischen genetischer Disposition und äußeren, als
Stresssituationen empfundene Belastungen, die eine Depression auslösen können.
Im Einzelfall sieht das oft anders aus: Nicht immer ist eine solche für den Einzelnen
als belastend empfundene Stresssituation als Auslöser einer depressiven Episode zu
identifizieren, genauso wie die meisten Menschen, die eine belastende Situation
erleben, deswegen noch keine Depression bekommen.
Aufgrund des eindeutigen Zusammenhangs zwischen belastenden
Lebensereignissen, kurz Stressoren, und dem Entstehen von Depression hat die
Stressforschung eine zentrale Rolle auch in der Behandlung der Depression
eingenommen. Stresssituationen werden im Gehirn durch die Herstellung
verschiedener Eiweißmoleküle beantwortet, diese erhöhen die
Stresshormonkonzentration im Gehirn und im restlichen Körper. Diese
Stresshormone greifen aber auch in die so genannten Botenstoffe des Gehirns ein.
Dies sind kleine chemische Moleküle, die als Signalvermittler zwischen den
Milliarden Nervenzellen des Gehirns tätig sind. Diese kleinen Signalmoleküle, auch
Neurotransmitter oder oft auch Botenstoffe genannt, sind der Ansatzpunkt der heute
im Handel befindlichen Medikamente gegen Depression, der sogenannten
Antidepressiva. Diese Medikamentenklasse setzt sich aus ganz unterschiedlichen
chemischen Verbindungen zusammen. Gemeinsam ist den Antidepressiva aber,
dass sie in den Stoffwechsel oder in die Funktion der signalübertragenden
Neurotransmitter eingreifen.
Das muss man sich so vorstellen: Aus der Endigung einer Nervenzelle wird ein
Botenstoff freigesetzt, um das Signal von der einen Nervenzelle zur anderen zu
übertragen. Zwischen den Enden zweier Nervenzellen ist ein kleiner Spalt, in den der
Botenstoff freigesetzt wird. Wenn er einmal freigesetzt ist, hat er zwei Möglichkeiten:
Entweder, er wird von der Nervenzelle, die ihn freigesetzt hat, wieder aufgenommen
oder er bindet an eine Struktur an der Oberfläche der benachbarten Nervenzelle. Dort löst er ein Signal aus, das in das Zellinnere weitergeleitet wird. Ist also der Botenstoff einmal freigesetzt, hat er zwei Alternativen: entweder er verschwindet dorthin wo er schon war, nämlich zurück in die freisetzende Nervenzelle oder aber er löst ein Signal in der benachbarten Nervenzelle aus. Diese Weiterleitung des Signals scheint sehr wichtig zu sein, denn Antidepressiva wirken alle durch Verstärkung dieser Form der Signalweiterleitung. Die Antidepressiva unterscheiden sich allerdings darin, welche Art von Botenstoffen hier in deren Wirkung verstärkt wird. Wir unterscheiden das Serotonin und das Noradrenalin. Die heute am meisten verwendeten Antidepressiva stärken die Signalwirkung von Serotonin. Unsere Kenntnisse über die Wirkung der Antidepressiva sind zwar schon sehr umfangreich, aber wir entdecken immer neue Effekte, die diese Medikamente an der Zelloberfläche oder im Zellinneren ausüben können. Durch viele klinische Untersuchungen an Patienten mit Depression ist eindeutig nachgewiesen, dass Antidepressiva wirksam sind. Gelegentlich hört man auch Stimmen, wonach Antidepressiva die ihnen zugerechnete Wirkung gar nicht besitzen. Diese Äußerungen sind falsch, zynisch und gefährlich, weil sie dazu verleiten können, diese Therapie gerade bei den Patienten nicht anzuwenden, die sie dringend benötigen. Der Eindruck, Antidepressiva besäßen nicht die ihnen zugerechnete Wirkung, stammt vor allem aus Studien, bei denen Patienten mit leichter Depression untersucht wurden und wobei gefunden wurde, dass hier gegenüber Plazebo (also einem nichtwirksamen Scheinmedikament) kein Vorteil bestehen würde. Es ist aber so, dass leichte Depressionen sehr oft auch ohne spezifische Behandlung vergehen, so dass aus der Gleichwirksamkeit von Antidepressivum und Plazebo in solchen Studien nicht auf eine Unwirksamkeit von Antidepressiva bei schweren Depressionen geschlossen werden darf. Die Häufigkeitszahlen, die ich genannt habe, also die etwa 10-12% Risiko für jeden Einzelnen, im Leben an einer Depression zu erkranken, beinhalten nicht diese leichten Depressionen, die keiner medikamentösen Therapie bedürfen. Alle unsere Körpervorgänge, unser Denken, Fühlen, Handeln und Wollen werden von bestimmten Schaltkreisen unseres Gehirns über chemische Prozesse beeinflusst. Die Signalüberträger sind die genannten Botenstoffe, deren biochemisches Gleichgewicht in der Depression gestört ist. Die Therapie zielt darauf ab, durch Medikamente diese Stoffwechselstörung in den Nervenzellen zu korrigieren. Bei schwerer Depression gibt es keine Alternative zur Beeinflussung dieser Stoffwechselstörung durch Antidepressiva. Diese Medikamente sind keine Beruhigungsmittel, führen auch nicht zu Gewöhnung oder Abhängigkeit und haben keine gravierenden Nebenwirkungen. Der Zeitraum zwischen der Einnahme eines Antidepressivums und dem Einsetzen der ersten Symptomverbesserung ist sehr unterschiedlich. Oft dauert es zwei oder mehr Wochen bis der Patient eine Verbesserung seiner Symptome spürt. Daher ist es wichtig, dass der Patient nicht die Geduld verliert und akzeptiert, dass der Heilungsverlauf langsam Schritt für Schritt verläuft und manchmal nach einem ersten Therapieerfolg noch einmal vorübergehend Verschlechterungen eintreten können.
10. Die Reise der Antidepressiva ins Gehirn
Die Antidepressiva müssen einen komplizierten Weg zurücklegen, bevor sie im
Gehirn ihre Wirkung entfalten können. Zunächst werden sie als Tabletten, selten
auch als Tropfen eingenommen und wandern durch die Speiseröhre in den Magen
und von dort in den Darm. Dort werden sie vom Blut aufgenommen, gelangen in den
großen Kreislauf und werden, nachdem es ihnen gelungen ist, ihren Aufenthalt in
Magen und Darm heil zu überstehen und über die Leber nicht abgebaut zu werden,
vom Blut an das Gehirn abgegeben. Die Art und Weise, wie Magen und Darm mit
dem Medikament umgehen, variiert sehr stark. Auch in der Leber erleiden die
Medikamente ein unterschiedliches Schicksal, denn jeder Mensch hat dort eine
etwas andere Mischung von solchen Enzymen, deren Hauptaufgabe der Abbau von
Medikamenten ist. Das heißt, bei dem einen Menschen wird ein Medikament aus
dem Magen-Darmtrakt ins Blut übergehen und nur in geringem Maße von der Leber
abgebaut, so dass in diesem Fall im Blut bereits eine ausreichende Konzentration
des Antidepressivums vorliegt, obwohl die eingenommene Menge gering war. In
einem anderen Fall allerdings kann die Passage aus dem Magen-Darmtrakt
erschwert sein und in der Leber ein sehr intensiver Abbau des Medikaments
erfolgen, so dass bei der gleichen Dosis wie zuvor nur eine geringe Menge in den
Blutkreislauf zirkuliert. Um die Risiken der zu hohen oder niedrigen Dosierung zu
vermeiden, werden die Plasmakonzentrationen der Antidepressiva im Blut
gemessen. Da das Gehirn gegenüber dem Blutkreislauf durch eine so genannte Blut-
Hirnschranke geschützt ist, damit unser wertvollstes Organ nicht mit für das Gehirn
unverträglichen Substanzen überflutet wird, müssen wir auch noch sicher sein, dass
das Medikament vom Blut tatsächlich durch diese Blut-Hirnschranke in das Gehirn
gelangt. Um dies zu überprüfen, müssen wir nach Therapiebeginn unter anderem die
Hirnstromkurve (EEG) messen, um mit deren Hilfe die ausreichende Dosierung
abschätzen zu können.

11. Haben Antidepressiva Nebenwirkungen?
Substanzen der ersten Generation Antidepressiva, die in ihrer chemischen
Grundstruktur in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckt wurden,
hatten tatsächlich bei vielen Menschen unangenehme Nebenwirkungen, die sich auf
das vegetative Nervensystem auswirkten, und gelegentlich zu Schweißausbrüchen,
trockenem Mund, verschwommenem Sehen und Krampfanfällen führten. Die neuen
Antidepressiva, die wir heute einsetzen, haben diese Nebenwirkungen nicht, jedoch
andere, die zwar weniger unangenehm sind, mit denen wir aber auch noch nicht
zufrieden sein können. Hierzu zählen vor allem zu Beginn der Behandlung innere
Unruhe, Schweißausbrüche, Gewichtszunahme und gelegentlich sexuelle
Funktionsstörungen. All diese Symptome, die durch Antidepressiva hervorgerufen
werden – und das muss man immer wieder betonen – sind geringfügig im Vergleich
zu den Symptomen der Depression, die ebenfalls mit Herz-Kreislaufbeschwerden,
Magen-Darmbeschwerden, sexuellen Funktionsstörungen, Schlaflosigkeit und
Unruhe einhergeht. Wichtig ist zu wissen, dass Antidepressiva nicht abhängig
machen, man wird also nicht „süchtig“ von ihnen.

12. Woher weiß ich, ob ich das richtige Medikament bekomme?
Es gibt heute eine große Anzahl verschiedener Antidepressiva auf dem Markt
(ungefähr 40) ohne dass wir von vornherein mit Sicherheit sagen können, welches
für den betreffenden Patienten das Richtige ist. Unterschiedliche Medikamente
haben unterschiedliche Haupt- und Nebenwirkungsprofile. Einige Medikamente
wirken eher aktivierend. Diese sind vor allem bei Patienten angebracht, bei denen
der psychische Antrieb darniederliegt. Andere Medikamente wirken eher beruhigend
und sind vor allem dann geeignet, wenn der Patient von starker innerer Unruhe und
Schlafstörungen geplagt ist.
Die Wissenschaft bemüht sich derzeit, auf Grund biochemischer und genetischer
Daten das für den einzelnen Patienten am besten geeignete Medikament
identifizieren zu können. Diese maßgeschneiderte Therapieform wird auch
„personalisierte Medizin“ genannt. Erste Ergebnisse aus dem Max-Planck-Institut für
Psychiatrie lassen den Schluss zu, dass dies tatsächlich ein gangbarer und für den
Patienten gegenüber den heutigen Therapien ein erheblich besserer Weg werden
wird.

13. Werden bei der Depression nur Antidepressiva als Medikamente gegeben?
Tatsächlich stehen die Antidepressiva im Mittelpunkt jeder Depressionstherapie. Zu
Beginn einer Behandlung kann es allerdings nötig sein, für ein oder zwei Wochen ein
so genanntes Benzodiazepin zu geben. Hierdurch werden quälende Angstzustände,
vor allem auch Selbsttötungsgedanken abgemildert. Wir sind heute allerdings mit der
Verordnung von Benzodiazepinen äußerst zurückhaltend. Sie werden nur in
ausgesuchten Fällen verordnet, weil sie bei längerem Gebrauch zur Abhängigkeit
führen können. Eine andere Substanzklasse, die gelegentlich mit Antidepressiva
kombiniert wird, sind die so genannten Neuroleptika. Diese Medikamente haben vor
allem ihre Berechtigung bei der Behandlung der Manie. Sie werden auch bei
denjenigen depressiven Patienten gegeben, bei denen unrealistische negativ
gefärbte Ideen (zum Beispiel wahnhafte Schuldgedanken etc.) bestehen. Wenn
Schlafstörungen besonders quälend sind, wird man zunächst versuchen, diese mit
einem hierfür besonders geeigneten Antidepressivum zu behandeln. Wenn dies nicht
ausreicht, werden vorübergehend auch Schlafmittel oder Neuroleptika verordnet.

14. Welche Rolle spielt die Psychotherapie?
Eine psychotherapeutische Begleitung eines Patienten ist in der Mehrzahl der Fälle
dringend nötig. Ein verständnisvolles und stützendes ärztliches Gespräch mit
Erstellung eines Gesamtbehandlungsplans ist die Grundlage jeder
Depressionsbehandlung und kann bei leichten depressiven Verstimmungen als
einzige Therapiemethode ausreichen. Die wichtigste Form der Psychotherapie ist die so genannte kognitive Verhaltenstherapie. Sie beinhaltet die Korrektur negativer Realitäts- und Selbstbewertung, den schrittweisen Aufbau von Aktivitäten nach dem Verstärkerprinzip, die Förderung von Selbstsicherheit und sozialer Kompetenz sowie die Bewältigung von Alltagsproblemen. Die nach ihrem Gründer Sigmund Freud benannte Psychoanalyse hat für die Behandlung schwerer Depressionen keine Bedeutung, obwohl dies bei weitem immer noch diejenige Methode ist, für die am meisten Geld ausgegeben wird (75% des Gesamtbudgets der Krankenversicherungen für therapeutische Einzelverfahren). Ziel jeder Depressionstherapie ist immer die vollständige Wiederherstellung des psychischen Befindens. Durch den zunehmenden wirtschaftlichen Druck der Kostenträger zur verkürzten stationären Aufenthaltsdauer kann dieses Ziel oft nicht erreicht werden. Daher ist eine Verzahnung der stationären mit der ambulanten Versorgung nötig, damit die nach der stationären Therapie verbliebenen Defizite durch die ambulante Behandlung beseitigt werden und somit das Rückfallrisiko verringert wird.
15. Kann die Depression geheilt werden?
Versteht man unter Heilung Wiederherstellung des Gesundheitszustandes unter
Erreichen des Ausgangszustandes, dann können wir mit Sicherheit sagen, dass
nach einer Behandlung von etwa sechs Wochen zwischen 50 und 60% der Patienten
wieder geheilt sind. Weitere 20-30% der Patienten benötigen kompliziertere
Therapien, bei denen mehrere Medikamente kombiniert werden müssen und auf alle
Fälle auch eine intensive Psychotherapie angewandt werden muss. Bei etwa 5-10%
der Patienten ist die Heilung nicht vollständig, es bleiben Restsymptome, die von
Antriebslosigkeit bis zu Schlafstörungen und anderen Beschwerden reichen. Diese
Zahlen entsprechen etwa der einer Therapie des Bluthochdrucks, auch hier bleiben
5-10% der Patienten therapieresistent.
Im Zusammenhang mit Depressionstherapie wird der Begriff Heilung immer wieder
kontrovers diskutiert. Hier muss klargestellt werden, dass die Depression sehr wohl
heilbar ist, dass aber jemand, der bereits eine depressive Episode erlitten hat, ein
erhöhtes Risiko besitzt später eine erneute depressive Episode zu erleben. Dies ist
nicht erstaunlich, denn er besitzt ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Dieses erhöhte
Erkrankungsrisiko hatte er aber schon vor der ersten Episode, sonst hätte er sie nicht
bekommen. Gerade weil jede depressive Episode das Risiko einer erneuten Episode
erhöht, ist es so wichtig, dass bereits die frühen Episoden wirkungsvoll behandelt
werden und diese Behandlung nicht schon nach Abklingen der Hauptsymptome
beendet wird, sondern möglichst sechs bis zwölf Monate weitergeführt wird, um eine
hohe Stabilität zu erreichen. Gerade bei älteren Menschen sollte die
Antidepressivatherapie als Prophylaxe lange weitergegeben werden.

16. Was ist zu tun, damit es nicht zu einem Rückfall kommt?
Ist eine depressive Episode geheilt, besteht trotzdem das Risiko, wieder zu
erkranken, und zwar mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als bei jemandem, der
noch keine depressive Episode hatte. Daher ist es erforderlich, dass alle
Möglichkeiten ausgenutzt werden, um das Wiederauftreten einer Depression zu
verhindern.
Die Weiterbehandlung mit einem Antidepressivum über die depressive Episode
hinaus - etwa ein Jahr lang - kann einem solchen Rückfall vorbeugen. Sind in der
Vergangenheit schon häufiger depressive Episoden eingetreten oder war die erste
depressive Episode durch eine besonders schwere Symptomatik gekennzeichnet,
zum Beispiel Selbsttötungsgedanken oder wahnhafte Ideen, dann muss schon nach
der ersten Krankheitsepisode eine vorbeugende Therapie in Erwägung gezogen
werden. Neben der Weitergabe des zuletzt wirksamen Antidepressivums kann als
Dauertherapie auch mit solchen Medikamenten vorgebeugt werden, die ursprünglich
gegen die Behandlung von Krampfanfällen entwickelt worden sind. Dies sind vor
allem das Carbamazepin und das Lamotrigen. Vor allem letzteres hat sich in den
vergangen Jahren als nahezu nebenwirkungsfreie Vorbeugung vor neuen Episoden
bewährt. Im Falle der manisch depressiven Erkrankung ist die bis heute noch am
besten etablierte Vorbeugung die Gabe von Lithiumsalzen oder Valproinsäure.

17. Was können die Angehörigen beitragen?
In den vergangenen Jahren hat sich bezüglich der Einstellung der Bevölkerung
gegenüber Patienten mit Depression vieles gebessert. Trotzdem bestehen nach wie
vor noch viele Vorurteile und Fehlkonzepte in der Bevölkerung und noch immer
glauben viele, dass Depressionen Modeerkrankungen sind und Charakterfehler oder
Willensschwäche reflektieren. Dem ist entgegenzuhalten, dass Depressionen in
entlegenen Dörfern in Afrika oder Südamerika genauso häufig vorkommen wie in
Shanghai oder Los Angeles.
In kaum einem anderen Bereich der Medizin tritt der Laie so kompetent als Experte
auf, als wenn es darum geht zu erklären, wo eine Depression herkommt und was
man dagegen tun muss, damit sie wieder verschwindet. Die Folgen sind das
Aufblühen obskurer Therapieformen, die unwirksam sind, bis hin zur vor allem in
Deutschland populären Einnahme von Kräuterextrakten anstatt wirksamer
Medikamente (siehe Frage 21). Bei all diesen Verflechtungen ist es wichtig, dass im
unmittelbaren Umfeld des Patienten Verständnis für die Erkrankung aufgebaut wird,
vor allem damit der Patient nach seiner Entlassung in eine Umgebung kommt, die ihn
unterstützt und ihm nicht ratlos, vorwurfsvoll oder kritisch gegenübersteht. Es ist
daher wichtig, frühzeitig die Angehörigen oder Vertrauenspersonen für die
Zusammenarbeit zu gewinnen. Diese müssen an die biologischen Grundlagen der
Depression herangeführt werden und ihnen muss bewusst gemacht werden, dass es
sich bei der Depression nicht um etwas handelt, das sich durch Willensstärke oder
Befolgung von Ratschlägen überwinden lässt. Auch Symptome wie Negativität und
Reizbarkeit oder auch Inaktivität und vermeintliche Selbstbezogenheit des Patienten
dürfen nicht dazu führen, dass die Angehörigen Verständnis und Geduld verlieren und sich von dem „undankbaren“ Patienten abwenden. Die Angehörigen und Freunde müssen lernen, Verständnis für die Unfähigkeit des Patienten entwickeln, aus eigener Kraft etwas zu erreichen und die emotionale Distanz oder auch ein vermindertes Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sexualität nicht als emotionale Abwendung fehlinterpretieren. Es ist auch wichtig, dass der Patient durch „gute Ratschläge“ nicht überfordert wird und umgekehrt Angehörige nicht in einen Art Co-Therapeutenstatus gedrängt werden, in dem sie ihrerseits überfordert sind. Da der Druck nach Verkürzung der stationären Aufenthaltszeit immer grösser wird, ist es wichtig, dass Patienten in ein Umfeld entlassen werden, das alle diese Dinge sorgfältig berücksichtigt: bei der sowohl Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, aber auch Neurologen und Internisten gemeinsam mit den klinischen Psychologen ihre Bemühungen sorgfältig abstimmen, damit der Patient nicht einige Wochen oder Monate nach seiner Entlassung wegen eines Rückfalls wieder stationär aufgenommen werden muss.
18. Was ist das Burn-Out-Syndrom?
Das Burn-Out-Syndrom ist eine Diagnose, die Patienten oftmals an sich selber
stellen, vor allem, wenn sie sich in einem Zustand der totalen Erschöpfung befinden.
Die typischen Symptome sind verminderte Leistungsfähigkeit, emotionale und
körperliche Erschöpfung, eine gleichgültig negative, manchmal auch zynische
Haltung gegenüber der Arbeit und den Kollegen und die Überzeugung beruflich
versagt zu haben. Daneben kommen Symptome vor, die wir auch sonst bei der
Depression kennen, wie Schlafstörungen, Freudlosigkeit, Konzentrationsstörungen
und eine Vielzahl von körperlichen Beschwerden, wie Rückenschmerzen,
Kopfschmerzen und Ähnliches. Grundsätzlich ist hier zu sagen, dass Patienten, die
sich selbst mit Burn-Out-Syndrom diagnostizieren, mitunter schon die Kriterien einer
behandlungspflichtigen Depression erfüllen. Oftmals ist die lang andauernde
Stresssituation dazu angetan, bei denjenigen, die eine Disposition zu einer
Depression haben, diese auch auszulösen. Davon unterschieden werden muss
allerdings die Erschöpfungssituation, die bei lang andauernder Belastung, fehlender
Erholung, vor allem auch fehlendem Schlaf, hervorgerufen wird. In diesem Fall ist es
sinnvoll, mit dem Patienten über seine Lebensführung, seine Leistungsgrenzen,
seine Karriereerwartungen und sein soziales Netz zu sprechen. Wenn es gelingt,
dem Patienten hier deutlich zu machen, dass eine über die eigenen Fähigkeiten und
Leistungsreserven hinausgehende Kompression der Aufgabenbewältigung
vermieden werden muss, dann ist der erste Schritt in die richtige Richtung schon
getan. Wenn dies auf Anhieb nicht möglich ist, erscheinen auch
Entspannungsverfahren und ein kognitives Verhaltenstraining angebracht. Der
schnelle Einsatz von Antidepressiva erscheint ebenso wenig angeraten wie die
Verordnung von Beruhigungsmitteln (Benzodiazipine vom Typ Valium) oder
Aufputschmitteln (Dexidrin, Modafinil).
19. Hat die Depression selbst Auswirkungen auf die Gesundheit?
Patienten mit Depression haben ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen
und Stoffwechselerkrankungen, vor allem für Diabetes Mellitus (Zuckerkrankheit).
Eine gerade vom University College London veröffentlichte Arbeit zeigt, dass
schwere depressive Symptome akute Minderdurchblutung des Herzens auslösen
können. Die schwere Depression ist ein Risikofaktor für Herz-Kreislauferkrankungen,
sowohl für ihr Entstehen, als auch für ihr Wiederauftreten: Zum Beispiel ist das Risiko
innerhalb eines halben Jahres nach einem Herzinfarkt wieder einen Herzinfarkt zu
erleiden bei Patienten, die eine Depression haben, drei bis viermal höher als bei
denen, die nach dem Herzinfarkt depressionsfrei sind. Die Depression wird als ein
den erhöhten Blutfetten gleichwertiger Risikofaktor für Herz-Kreislauferkrankungen
angesehen.
Ein weiteres Problem ist, dass Patienten mit einer Depression häufig Diabetes
Mellitus bekommen. Die Ursache hierfür ist das sogenannte metabolische Syndrom.
Es besteht unter anderem aus einer Störung des Zuckerstoffwechsels,
Bluthochdruck, einer Veränderung des Fettstoffwechsels und einer Ansammlung von
Fettgewebe im Inneren des Bauchraums. Das metabolische Syndrom ist ein
wesentlicher Risikofaktor für Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes. Diese beiden
Erkrankungen sind die häufigsten Erkrankungen alter Menschen. Betrachtet man die
Altersentwicklung in unserer Gesellschaft, dann erkennt man allein schon daraus,
wie wichtig es ist, die Risiken für diese beiden Volkskrankheiten zu reduzieren.
Hierzu gehört auch das frühzeitige Erkennen und Behandeln von Depressionen, die,
wenn sie nicht behandelt werden, im Alter die Tendenz haben, chronisch zu werden.

20. Wie sieht die Depressionstherapie im Jahr 2020 aus?
Wir haben heute Medikamente, die grundsätzlich alle ein ähnliches Wirkungsprofil
und auch eine ähnliche klinische Wirkung haben. Dabei müssen wir feststellen, dass
es zu lange dauert bis sie wirken, nämlich oft erst nach vier bis sechs Wochen,
manchmal sogar noch später. Bei etwa 5-10% der Patienten wirken sie nicht oder nur
sehr unbefriedigend und haben zu viele Nebenwirkungen. Die Depression ist aber
keine Erkrankung, die durch ein bestimmtes Bakterium oder durch eine durchtrennte
Sehne, sondern durch eine Vielzahl sehr komplexer, ineinandergreifender
Mechanismen ausgelöst wird. Diese Mechanismen beruhen teilweise auf
Besonderheiten in unserem Erbgut, zum Teil aber auch auf der Veränderung unserer
Hirnfunktion, die durch biographische Ereignisse eingetreten sind. Hier sind
Erfahrungen in der Kindheit bedeutungsvoll, aber auch akute Lebensereignisse.
Dieses Ineinanderwirken genetischer und äußerer Faktoren ist von Mensch zu
Mensch verschieden. Daher werden wir in der Zukunft für jeden einzelnen Patienten
sein individuelles Risikoprofil erstellen und dann eine diesem Risikoprofil
angemessene maßgeschneiderte Behandlung anwenden. Das Ziel sollte dabei sein,
gar nicht erst zu warten, bis die Erkrankung auftritt, sondern auf Grund des
Risikoprofils eine Art Frühwarnsystem zu etablieren, mit Hilfe dessen man immer
schon dann intervenieren kann, wenn die Erkrankung in ihrem vollen
Symptomspektrum noch gar nicht aufgetreten ist. Wenn unser Zuwachs an Wissen
aus der Forschung mit gleichem Tempo weitergeht wie in den letzten fünf bis zehn Jahren, dann ist dies keine Utopie.
21. Was bringen mir Johanniskraut, Bachblüten, Gingko und andere pflanzliche
Produkte?

Wir müssen zunächst verstehen, dass diejenigen Substanzen die aus Pflanzen
gewonnen werden, ebenfalls chemische Verbindungen sind, die im Körper
erwünschte und unerwünschte Wirkungen hervorrufen. Tatsächlich sind chemische
Verbindungen aus Naturprodukten, nicht etwas grundsätzlich anderes als diejenigen
chemischen Verbindungen, die wir als Tabletten zu uns nehmen und die in
chemischen Laboratorien entwickelt wurden. Die Arzneimittelkunde hat sich
schließlich aus den in Naturprodukten vorkommenden chemischen Stoffen
entwickelt. Das Bestreben der pharmazeutischen Industrie ist es, in ihren
Laboratorien chemische Moleküle so abzuändern, dass der erwünschte Effekt
optimiert und die unerwünschten Nebenwirkungen minimiert werden.
Am Beispiel des Johanniskrauts, das in Deutschland außerordentlich populär ist,
kann dies illustriert werden:
Aus den Blütenblättern dieser Pflanze werden verschiedene Chemikalien gewonnen,
die Wichtigsten sind Hypericin und Hyperforin. Diese chemischen Substanzen
verstärken, genau wie handelsübliche Antidepressiva, die Wirkung der
Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin im Gehirn, indem sie ähnlich, wie etwa
Prozac oder Trevilor, die Wiederaufnahme dieser Neurotransmitter in die
Nervenendigungen hemmt. Darüber hinaus haben die in Johanniskrautextrakten
enthaltenen Chemikalien Wirkung auf andere Neurotransmitter, zum Beispiel die
Gamma-Aminobuttersäure, Dopamin und Glutamat.
Auch wenn das letzte Wort über die Wirksamkeit von Johanniskraut noch nicht
gesprochen ist (die neueren wissenschaftlichen Publikationen, die positive
Ergebnisse berichten, stammen häufig vom Hersteller selbst oder seinen
Auftragnehmern), kann man nach dem heutigen Stand des Wissens sagen, dass bei
leichteren Depressionen gegen einen Therapieversuch nichts einzuwenden ist.
Allerdings müssen einige Nebenwirkungen beachtet werden, die gravierend sein
können: So kommt es unter Johanniskraut zu Durchfällen und einer erhöhten
Neigung zu starkem Sonnenbrand. Problematisch ist die Anwendung von
Johanniskraut, wenn auch andere Medikamente eingenommen werden, da
Johanniskraut in der Leber einige Stoffwechselprozesse aktiviert, die zu unerwünscht
raschem Abbau von Arzneimitteln führt. So wirkt oft die Antibabypille nicht mehr und
einige Medikamente, die gegen AIDS oder Infektionen (Antibiotika) verordnet
werden, sind bei gleichzeitiger Johanniskrauteinnahme in ihrer Wirkung
eingeschränkt.
Auch Medikamente, die bei Herz-Kreislauferkrankungen (z.B. Digitalis,
Gerinnungshemmer und Blutdrucksenker) oder Krampfleiden (Epilepsie) gegeben
werden, können bei gleichzeitiger Johanniskrauteinnahme an Wirkung verlieren.
Werden Standardantidepressiva gegeben, wird nicht nur deren Wirkung verstärkt, sondern auch Anzahl und Ausmaß der Nebenwirkungen. Daher sollte auf eine gleichzeitige Johanniskrauteinnahme unter Standardantidepressivatherapie verzichtet werden. Von der Verwendung von Bachblütenextrakten, Gingkopräparaten und anderen pflanzlichen Produkten zur Depressionsbehandlung rate ich ab. Es muss bedacht werden, dass eine unzureichende Therapie das Risiko der Chronifizierung der Depression vergrößert. Daher sollten mittelschwere und schwere Depressionen unter fachärztlicher Anleitung konsequent mit den gut etablierten Antidepressiva behandelt werden.
22. Versucht die Industrie neue Indikationen für ihre Produkte zu erfinden?
Natürlich ist die Pharmaindustrie daran interessiert ihre Medikamente gut zu
vermarkten. Wenn man aber bedenkt, dass von den derzeit in Deutschland an
Depression erkrankten vier Millionen Menschen nur etwa 10% eine angemessene
Therapie erhalten, dann würde ich –wäre ich Pharmamanager - all diejenigen
Bemühungen der Ärzte und Selbsthilfegruppen unterstützen, die darauf abzielen,
sicherzustellen, dass diejenigen, die behandelt werden, auch erkannt werden. Hier
wäre wahrscheinlich die größte Marktchance. Auf jeden Fall ist es ein Irrtum zu
glauben, der Antidepressivamarkt sei im Bereich der Patienten mit Depressionen
bereits gesättigt. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Es gibt allerdings auch Stimmen, die den Epidemiologen vorwerfen, dass sie im
Interesse der Industrie die Schwelle zur Identifizierung einer Erkrankung oft zu
niedrig ansetzen und dadurch zu hohe Häufigkeitszahlen künstlich produzieren. Von
diesem Vorwurf mag ich sowohl die Pharmafirmen als auch die Epidemiologen nicht
völlig freisprechen und auch nicht davon, dass gelegentlich Krankheiten propagiert
werden, die aus meiner Sicht nicht unbedingt als solche bezeichnet werden müssen.
Ein Beispiel hierfür wäre das so genannte Sissi-Syndrom, ein Krankheitsbild, bei dem
Frauen ihre Depression hinter ständiger Unruhe verbergen würden, die dann, so wie
bei der jungen Kaiserin, zu einer Vielzahl scheinbar rastlos ausgeübter Aktivitäten
führte. Das „Krankreden“ von Menschen, die auf Grund besonderer Lebensumstände
gerade einmal das eine oder andere Symptom haben, halte ich für eine negative
Entwicklung, weil damit vom eigentlichen großen Problem, nämlich dem
unzureichenden Erkennen und Behandeln schwerer Depressionen abgelenkt wird.
Hier erwarte ich mir von der Pharmaindustrie, aber auch den Journalisten und
Patientenselbsthilfegruppen gemeinsam mit den Ärzten und klinischen Psychologen
Anstrengungen, sich wieder auf das wirklich Wesentliche zu konzentrieren.

Source: http://www.holsboer.de/PDF/faq.pdf

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